Didos Liebe betört den Aineias

Die Mienen, die Worte des Helden gruben sich der Königin tief ins Herz. Als die Gäste den Palast längst verlassen hatten und sie wenige schlaflose Stunden auf ihrem Lager zugebracht, suchte sie das Gemach ihrer geliebten Schwester und vertrautesten Freundin Anna auf und begann dieser ihr ganzes Herz aufzuschließen. "Schwester Anna", sprach sie, "mich ängstigen wunderbare Träume. Welch ein seltener Gast hat unsere Wohnungen betreten, welche Waffen, welcher Mut, welche Blicke! Man sieht ihm wohl an, daß er von den Göttern abstammt! Und welches Geschick hat er erfahren, welche Kriege durchgekämpft, welche Fahrten bestanden! Wahrhaftig, Schwester, wenn ich nicht unwiderruflich beschlossen hätte, mich durch das Band der Ehe keinem Manne mehr zu gesellen, seit der Tod mich um meine Erstlingsliebe betrogen hat: dieser einzigen Schwäche könnte ich vielleicht unterliegen. Aber eher soll mich die Erde verschlingen, eher der Blitz mich treffen, ehe ich meinem ermordeten Gemahl die Treue breche; er hat meine Liebe mit sich fortgenommen, er behalte sie auch im Grabe!" Tränen erstickten ihre Stimme, und sie vermochte nicht weiter zu sprechen.

Ihre Schwester blickte sie mitleidig an und erwiderte: "Dido, ich liebe dich mehr als mein Leben, willst du deine holde Jugend denn ganz in Witwengram verjammern? Meinst du, der Staub deines Gatten kümmere sich um deine Entsagung? Kommt es dir denn gar nicht in den Sinn, in welchem Gebiet du hausest, daß du auf der einen Seite von kriegerischen Gaetulern, von unbändigen Numidenstämmen, von ungastlichen Sandbänken, auf der anderen Seite von wasserlosen Wüsten eingeschlossen bist? Und welche Kriege drohen dir von Tyros her, von deinem unversöhnlichen Bruder? Glaube mir, durch Gunst unserer Schutzgöttin Hera ist es geschehen, daß die troianischen Schiffe hier gelandet sind. Schwester, wie mächtig würde unsere Stadt, wie mächtig das Reich durch eine solche Vermählung werden! Wie wird sich der Ruhm der Punier steigern, von den Waffen der Troianer begleitet! Sei klug, liebe Schwester, opfere den Göttern, heiße die Gäste bleiben, umstricke die Helden mit Einwendungen aller Art, so lange ihre Flotte noch zerschellt und die Winde den Schiffenden zuwider seien."

Anna entflammte mit diesen Worten Didos glühende Seele noch mehr und schläferte alle Scheu in ihrem Herzen ein. Sie gingen zusammen in den Tempel und opferten den Göttern. Dann führte Dido den geliebten Helden durch ihre Stadt, zeigte ihm den sidonischen Königsglanz und feierte ihrem Gast zu Ehren ein neues Mahl; wieder herzte sie den Askanios, das Ebenbild seines Vaters, wieder konnte sie nicht satt werden, den Helden von Troias Leiden erzählen zu hören.

Dies war der Göttermutter Hera vom Olymp herab nicht entgangen. Der rechte Zeitpunkt, den Helden für immer um das verheißene Italien zu betrügen und das Volk der Troianer in fremden Stämmen sich verlieren zu lassen, schien ihr gekommen. Sie suchte ihre Tochter Aphrodite auf und begann heftig, doch freundlich zu ihr: "Wahrhaftig, du und dein Knabe, ihr habt einen schönen Sieg davongetragen! Doch wozu noch längeren Hader? Laß uns ein Ehebündnis und damit ewigen Frieden schließen! Du hast, was du mit ganzer Seele suchtest: Dido glüht von Liebe zu Aineias. Wohlan, laß uns die Völker verschmelzen; sie mag dem troianischen Gatten dienen, und die Tyrier sollen seine Hochzeitsgabe sein."

Aphrodite merkte die heimliche Absicht der Heuchlerin wohl, sie erwiderte aber ganz willfährig: "Wie könnte ich so töricht sein, dir dieses zu verweigern, Mutter? Wie könnte ich es wagen wollen, in endlosem Kampf mich mit dir zu messen? Ich fürchte nur, Zeus möchte den Verein beider Völker nicht gestatten. Doch, du bist ja seine Gemahlin, dir ziemt es, sein Herz durch Bitten geneigt zu machen. Was du zuwege bringst, ist mir recht." - "Laß das meine Sorge sein", erwiderte Hera vergnügt, "vor allen Dingen muß der Bund geschlossen werden. Laß mich nur die Geschicke lenken, Geschehenem wird Zeus seine Billigung nicht versagen." Zustimmend und freundlich nickte Aphrodite, aber im Herzen spottete sie des Betrugs.

Am nächsten Morgen veranstaltete die Königin eine große Jagd, ihren fremden Gästen zu Ehren. Auserlesene Jünglinge mit Schlingen, Netzen, breiten Jagdspießen, von Reitern und Spürhunden begleitet, verließen die Tore. Vor dem Palast stand der Zelter der Königin, mit Gold geschmückt und mit Purpurdecken behangen, und kaute mutig an seinem beschäumten Gebiß; an der Pforte harrten die Punierfürsten. Endlich trat Dido heraus, umdrängt von großem Jagdgefolge; sie trug ein buntbesticktes sidonisches Jägerkleid; darüber
einen mit goldener Schnalle aufgeschürzten Purpurrock; ein goldenes Diadem umschlang ihre Stirn, und von der Schulter hing ihr der goldene Köcher. Vier Troianer waren in ihrem Zuge, darunter auch der muntere Iulos. Endlich schloß sich der Schönste von allen, Aineias, mit seinem vertrautesten Helden ebenfalls der Begleitung an.

Als die Gesellschaft das Gebirge erreicht hatte, zerstreute sie sich bald auf der unwegsamen Wildbahn; von den Felsenkuppen sah man bald Gemsen über die Hügel her stürzen; auf der anderen Seite verließen Hirsche in stäubender Flucht ihre Berge, drängten sich in bange Haufen zusammen und durchrannten die offenen Felder. Mitten im Tal tummelte der Knabe Iulos oder Askanios sein mutiges Pferd und flog damit bald an diesen, bald an jenen Jägern vorüber; das schüchterne Wild war ihm viel zu gering; immer hoffte er, es werde ein schäumender Eber angelaufen kommen oder ein Löwe mit gelber Mähne hinter dem Hügel hervorschreiten.

Die Jäger waren so ganz in ihre Lust vertieft, daß sie nicht merkten, wie der Himmel sich zu verdunkeln begann, und das drohende Ungewitter, das sich in den Wolken zusammenzog, erst entdeckten, als der Wind durch die Bäume sauste und plötzlich Regen und Hagel herniederströmte. Tyrier und Troianer suchten, zerstreut und verwirrt, durch Felder und Wälder sich verschiedenen Schutz vor dem Unwetter. Während nun angeschwollene Waldströme von den Bergen stürzten und ein Zufluchtsort vom andern vereinzelt und abgeschnitten wurde, fanden sich durch Heras Veranstaltung die Königin Dido und der Troianerheld Aineias zugleich in der nämlichen Grotte zusammen, um vor dem immer mehr tobenden Ungewitter Schutz zu finden. Mit dem Aufruhr der Natur, beim Leuchten der Blitze und dem Krachen des Donners entfesselte sich auch die bisher zurückgehaltene Neigung der Königin; sie vergaß aller weiblichen Scheu und gestand dem Helden ihre glühende Liebe. Da schwanden dem betörten Aineias die göttlichen Verheißungen, er erwiderte ihre Zärtlichkeit und besiegelte mit einem leichtsinnigen Schwur die Ausbrüche ihrer Leidenschaft.