Agamemnons Ende

Als der König Agamemnon im Sturme von dem Vorgebirge Malea zurückgeworfen worden war, trieb ihn der Wind mit seinem Schiffzuge nach dem südlichen Gestade des Landes, wo einst sein Oheim Thyestes geherrscht hatte und jetzt der Fürstensitz des Aigisthos war. Er warf die Anker aus und wartete günstigen Fahrwind in einer sicheren Hafenbucht ab. Ausgeschickte Kundschafter brachten ihm die Nachricht, daß der König des Landes, Aigisthos, mit seiner Gemahlin Klytaimnestra, seit diese von Aulis zurückgekehrt, in nachbarlicher Freundschaft gelebt habe, ja daß derselbe, schon seit geraumer Zeit nach Mykene berufen, in der Königin Namen das Reich Agamemnons verwalte. Der Völkerfürst erfreute sich dieser Nachricht und suchte nichts Arges darunter. Er dankte den Göttern, daß der alte Rachegeist aus seinem Hause verschwunden sei. Ihm selbst, der so viel Griechen- und Barbarenblut vor Troia notgedrungen vergossen hatte, war der Durst nach Blutrache vergangen, und sein Inneres dachte nicht daran, den Mörder seines Vaters, der doch selbst nur gerechte Rache genommen hatte, zu strafen. Auch das Herz seiner Gemahlin glaubte er durch den langen Zeitraum beschwichtigt. Unter fröhlichen Hoffnungen lichtete er die Anker bei günstigem Wind und lief mit seinen Kriegern wohlbehalteninden Hafen seiner Heimat ein.

Sobald er hier den Göttern ein Dankopfer für Rettung und beglückte Fahrt am Ufer dargebracht hatte, folgte er mit seiner Kriegerschar dem abgesandten Herold. Vor der Stadt Mykene kam ihm das gesamte Volk, sein Vetter Aigisthos, der im ganzen Lande als königlicher Verwalter des Reiches galt, an der Spitze, entgegen. Alsdann erschien auch, von den Frauen ihres Hauses begleitet und von den streng bewachten Kindern umgeben, die Königin Klytaimnestra. Wie man bei erheuchelter Freude pflegt, empfing sie den Gemahl mit allen ersinnlichen Ehrenbezeigungen und mit übertriebener Ehrfurcht, ja, statt ihn zu umfangen, warf sie sich vor ihm auf die Knie und ergoß sich in Glückwünschungen und Lobsprüchen. Agamemnon aber eilte freudig auf sie zu, erhob sie vom Boden, umarmte sie und sprach: "Was denkst du, Ledas Tochter, daß du, wie eine Sklavin den Barbarenherrn, fußfällig im Staube dich wälzend, mich empfängst? Und was sollen diese herrlichen gestickten Teppiche, die unter meinen Fußtritt gebreitet sind? So empfängt man unsterbliche Götter und nicht sterbliche schwache Menschen. Ehre mich so, daß die Himmlischen mich nicht beneiden!"

Nachdem er die Gattin so begrüßt und die Kinder umarmt und geküßt, wandte er sich um zu Aigisthos, der mit den Häuptlingen der Stadt seitwärts stand, reichte ihm brüderlich die Hand und sagte ihm freundlichen Dank für die sorgfältige Verwaltung des Landes. Dann löste er die Riemen seiner Schuhe und ging barfuß über das kostbare Gewebe der Teppiche durch die ganze Stadt bis zu seinem Palast. In seinem Gefolge befand sich auch Kassandra, die weissagende Tochter des Priamos, die in der Beute dem Völkerfürsten, der sie aus den ruchlosen Händen Aias des Lokrers befreit hatte, zuteil geworden war. Sie saß mit gesenktem Haupt und niedergeschlagenen Augen auf einem hohen, auch mit anderer Beute beladenen Wagen. Als Klytaimnestra die edle Gestalt der Jungfrau gewahr wurde, überschlich sie ein Gefühl der Eifersucht, zu welchem sie freilich am wenigsten berechtigt war; gewaltiger aber noch befiel sie ein Schrecken, als sie den Namen der Gefangenen erkundet und erfahren hatte, daß sie die wahrsagende Priesterin der Pallas in ihrem durch Ehebruch entweihten Hause beherbergen sollte. Die höchste Gefahr deuchte ihr deswegen, länger mit ihrem verruchten Vorhaben zu zögern, und schnell war ihr arglistiger Entschluß gefaßt, die fremde Jungfrau in einer Stunde mit dem Gatten zu verderben. Doch verbarg sie sorgfältig ihr Inneres vor der Seherin, und als der ganze Zug vor dem Königspalast zu Mykene angekommen war, trat sie freundlich zu dem Wagen und rief ihr zu: "Steige herab, traurige Jungfrau, und gib dem Verdruß Abschied! Mußte doch selbst Alkmenes unbezwinglicher Sohn, Herakles, einst in die Knechtschaft wandern und sein Haupt unter das Joch einer fremden Herrin beugen! Wem das Schicksal einen solchen Zwang zugedacht hat, der darf sich glücklich preisen, wenn er unter Herren kommt, bei denen alter Reichtum zu Hause ist, denn wer das Glück erst kurz und unverhofft geerntet hat, pflegt hart und übermütig gegen Knechte zu sein. Sei getrost, du sollst alles bei uns erhalten, was billig ist!"

Kassandra veränderte ihre Miene nicht bei diesen Worten, lange blieb sie ohne Regung auf dem Stuhl ihres Wagens sitzen, die Dienerinnen mußten sie nötigen, ihren Platz zu verlassen. Endlich sprang sie vom Sitze wie ein gescheuchtes Wild; ihr Herz wußte alles, was ihr bevorstand; sie war gewiß, daß der Schluß des Schicksals nicht zu ändern sei, und, hätte sie ihn ändern können, sie hätte doch der Rachegöttin den Feind ihres Volkes nicht entziehen wollen, und weil er doch ihr Retter war, so verdroß es sie nicht, mit ihm zu sterben.

Im Palast wurden der Fürst Agamemnon und alle mit ihm Angekommenen durch Zurüstungen zu einem prächtigen Gastmahle getäuscht. Bei diesem Mahle hätte er von den gedungenen Knechten des Aigisthos wie ein Stier an der Krippe erschlagen werden sollen. Die Ankunft der Wahrsagerin aber bestimmte die Königin und ihren Ehebrecher, die Entscheidung nicht auf diesen Hinterhalt auszusetzen, sondern rascher und einsamer zu Werke zu gehen.

Agamemnon, von der Fahrt ermüdet und vom Wege durch das Land nach der Stadt bestäubt, verlangte nach einem erquicklichen Bade, und Klytaimnestra erklärte ihm mit liebreicher Zuvorkommenheit, daß sie dieses Bedürfnis längst vorhergesehen und daß ein warmes Bad für ihn bereit gehalten sei. Der König betrat ahnungslos das Badegewölbe seines Palastes, legte Panzer, Waffen und alle Gewänder ab und bestieg wehrlos und entkleidet den Badebehälter. Da brachen Aigisthos und Klytaimnestra aus ihrem Versteck hervor, warfen ihm ein festgewundenes Netz über den Leib und durchbohrten ihn mit wiederholten Dolchstichen. Sein Hilferuf drang aus dem unterirdischen Gemach, wo die Bäder sich befanden, nicht hinauf in den oberen Palast. Unmittelbar nachher ward Kassandra, die einsam durch die dunkeln Vorhallen des Königspalastes hin und her irrte, niedergemacht.

Sobald die doppelte Untat geschehen war, gedachten die Mörder, auf ihren Anhang vertrauend, sie nicht länger zu verbergen. Die beiden Leichname wurden im Palast ausgestellt; Klytaimnestra berief die Häupter der Stadt und sprach ohne Rückhalt und ohne Scheu: "Verarget mir, Freunde, meine bisherige Verstellung nicht. Ich habe dem Todfeinde meines Hauses, dem Mörder meines geliebtesten Kindes, seine Blutschuld nicht anders bezahlen können; ja ich habe ihn ins Netz gelockt, wie einen Fisch habe ich ihn gefangen; mit drei Dolchstichen, im Namen des unterirdischen Pluton geführt, habe ich meine Tochter gerächt. Es ist Agamemnon, mein Gatte, von meiner eigenen Hand umgebracht, ich leugne es nicht. Hat er doch, als handelte es sich um den Tod eines Schlachtviehes, sein eigenes Kind, mir das liebste, geopfert, um mit meinem Mutterschmerze die thrakischen Winde zu besänftigen. Verdiente ein solcher Frevler zu leben, verdiente er ein so schönes, ein so frommes Land zu beherrschen? Ist's nicht gerechter, daß Aigisthos euch befehle, der keinen Kindermord auf dem Gewissen hat, der in Atreus und im Atriden nur Erbfeinde seines Vaters gerächt hat? Ja, es ist billig, daß ich ihm die Hand reiche, daß ich Palast und Thron mit ihm teile, der das Werk der beleidigten Mutterliebe, das Werk der Gerechtigkeit mir vollbringen half. Er ist ein Schild meiner Kühnheit; so lange er und sein Anhang mich beschützt, wird niemand es wagen, mich wegen meiner Tat zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Was diese Sklavin betrifft (mit diesen Worten deutete sie auf Kassandras Leichnam), so war sie die Buhlerin des Treulosen; sie hat die Strafe des Ehebruchs erlitten und soll den Hunden zum Zerfleischen vorgeworfen werden."

Die Häupter der Stadt blieben auf diese Rede stumm. An Gegenwehr war nicht zu denken. Die Bewaffneten des Aigisthos umgaben den Palast; Waffengeklirr ertönte und drohende Laute ließen sich hören. Die Krieger Agamemnons, deren eine weit kleinere Schar aus dem männervertilgenden Kriege von Troia heimgekehrt war, waren in der Stadt zerstreut und hatten sorglos die Waffen von sich gelegt. Der wilde Anhang des Aigisthos durchzog die Stadtinvoller Rüstung und metzelte jeden nieder, der gegen den gräßlichen Mord seines Fürsten sich auflehnte.

Die Frevler versäumten auch nichts, ihre Herrschaft zu befestigen. Alle Ehrenstellen, alle Kriegsämter wurden unter ihre treuesten Anhänger verteilt. Die Töchter Agamemnons betrachteten sie als gefahrlose Weiber; aber zu spät fiel ihnen ein, daßindem jungen Orestes, dem jüngsten Kinde Agamemnons und Klytaimnestras, dem Vater ein Rächer nachwachse. Obgleich er kaum zwölfjährig war, hätten sie ihn doch gern getötet, um sich von aller Furcht der Strafe zu befreien. Aber seine kluge Schwester Elektra, besonnener als die Mörder, hatte sogleich nach der Tat Sorge für ihn getragen und ihn heimlich dem Sklaven, dem seine Aufsicht anvertraut war, übergeben. Dieser hatte ihn nach dem Lande Phokis gebracht und ihn dort als ein heiliges Unterpfand dem befreundeten König Strophios übergeben, der sein zweiter Vater wurde und ihn mit seinem eigenen Sohne Pylades sorgfältig erzog.