Vorwort zur ersten Auflage

Auf den ersten Band dieser Sammlung der schönsten Sagen des klassischen Altertums, der eine Mannigfaltigkeit kleinerer Mythen und Geschichten in sich schloß, folgt in gegenwärtigem zweiten Bande eine einzige Sage, aber die großartigste der alten Zeit, die Sage von Troia, und zwar von der Stadt Gründung bis zu ihrem Untergange, mithin in einer Vollständigkeit, wie sie als Erzählung aus den Quellen noch nie in dieser Gestalt zusammengefaßt worden ist. Der Bearbeiter wünscht und hofft, daß das Ganze, auf diese Weise überschaulich gemacht, nicht nur der Jugend neu und interessant erscheinen, sondern auch manchem altern Leser der "Ilias" als eine im Geiste dieses unsterblichen Gedichts wenigstens versuchte Vervollständigung nicht unwillkommen sein werde. Um so mehr hat er die Pflicht, sich darüber auszuweisen, daß jene Ergänzung von ihm nicht willkürlich, sondern mit gewissenhafter Benützung der Alten selbst, deren Quelle ihrerseits die epischen Darstellungen einzelner zyklischer Dichter waren, vorgenommen worden ist.

Im ersten Viertel des vorliegenden Bandes mußte sich der Verfasser für den Strom der Erzählung mit den trübe fließenden Quellen jener rhetorischen Machwerke behelfen, die wir, aus spätester Zeit, unter den Namen des Dictys Cretensis und des Dares Phrygius besitzen. Doch bildet ihr Bericht, aus welchem immer das mit Homer am leichtesten Vereinbare herausgesucht wurde, nur das historische Grundgewebe oder die Kette der Begebenheiten, während die berühmtesten Dichter des griechischen und römischen Altertums, Sophokles, Euripides, Horaz, Ovid u. a., den farbenreichen Einschlag ihrer Phantasie zu dem Gespinste beisteuerten.

Den Kern der Sage bildet sodann die "Ilias" Homers, welchem der Erzähler auch für die beiden andern Teile dieses Bandes den allgemeinen Ton der Darstellung abzulauschen und dessen Färbung er in demjenigen Teile, in welchem er der einzige Berichterstatter ist, so unverkümmert, als es in ungebundener Rede und doch dabei zusammengedrängtem Vortrage geschehen konnte, beizubehalten sich bestrebt hat. Die Homerische Geschichte der "Ilias" bildet auf solche Weise fast die Hälfte des zweiten Bandes. Täuscht den Verfasser dieses Buches seine Hoffnung nicht, so ist die innere Gestalt der unverderblichsten Dichtung auch unter Aufopferung der poetischen Form nicht verlorengegangen, und ihr Götterleib schimmert noch durch das prunklose Gewand der schlichtesten Prosa hindurch.

Das letzte Viertel des Bandes ist wieder mehreren Dichtern entnommen: Pindar, Sophokles, Virgil sind wiederholt berücksichtigt worden; doch ist hier der Darsteller so glücklich gewesen, in der Fortsetzung Homers durch den Dichter Quintus, dessen weiterer Name, Vaterland und Zeitalter in eine ungerechte Vergessenheit oder Unsicherheit gehüllt sind und den nur die Gelehrsamkeit bald Calaber, bald Smyrnäus benannt hat, eine echt poetische Grundlage und Stoff wie Form zu fortlaufender Erzählung vorzufinden. Die Paralipomenen dieses Poeten sind ein klassisches Kunstwerk und werden hoffentlich in ihrer Schönheit und Größe, gleich den Schöpfungen anderer Dichter, durch die treffliche metrische Übersetzung des Herrn Professors Platz in Wertheim, der das Publikum in der Sammlung verdeutschter Klassiker entgegensehen darf, sich bald die Anerkennung aller Freunde echter Poesie gewinnen. Der künstlerischen Übertragung jenes Gedichtes, welche der Erzähler dieser Sagen im Manuskripte zu benützen Gelegenheit gehabt hat, verdankt seine Darstellung an Farbe und lebendigem Ausdrucke nicht wenig, und der genannte Gelehrte möge den öffentlichen Dank, welcher ihm hier dargebracht wird, nicht verschmähen.

Was die allgemeinen Grundsätze betrifft, nach welchen auch der gegenwärtige Sagenkreis vom Verfasser in der Erzählung behandelt worden ist, so sind sie dieselben, die bei Abfassung des ersten Bandes befolgt worden sind; und der Bearbeiter freut sich, daß ihre Anwendung den Beifall billiger und einsichtiger Richter erlangt hat.

G. Schwab