Polydoros

Endlich berieten sich die Helden über den allerkostbarsten Teil der Beute, über den Knaben Polydoros, den Sohn des Königs Priamos, und nach kurzer Ratschlagung wurde einstimmig beschlossen, daß Odysseus und Diomedes als Gesandte zu König Priamos abgeordnet werden sollten und ihm die Übergabe seines jungen Sohnes anbieten, sobald Helena den Gesandten Griechenlands ausgeliefert sein würde. Den beiden Helden wurde der Gemahl der geraubten Fürstin, Menelaos, als dritter Gesandter beigegeben, und so machten sich alle drei mit dem jungen Polydoros auf den Weg und wurden unter dem Schütze des Völkerrechts als heilige Gesandte von den Troianern ohne Widerspruch in ihre Mauern aufgenommen.

Priamos und seine Söhne in ihrem Königspalast, der fern auf der Burg der Stadt gelegen war, wußten noch nicht, was zu ihren Füßen vorging, als schon die Gesandtschaft auf dem Marktplatze Troias stille hielt und, von troianischem Volk umgeben, Menelaos das Wort ergriff und sich mit herzzerschneidenden Worten über die frevelhafte Verletzung des Völkerrechts beklagte, die sich Paris an seinem heiligsten und teuersten Besitztum durch den frechen Raub seiner Gemahlin hatte zuschulden kommen lassen. Er sprach so beredt und eindringlich, daß die umstehenden Troianer alle, und darunter die ältesten Häupter des Volkes, von seinen Worten ergriffen wurden und unter Tränen des Mitleids ihm Recht geben mußten. Als Odysseus ihre Rührung bemerkte, nahm auch er das Wort und sprach: "Mir deucht, ihr sollet wissen, Häupter und andere Bewohner von Troia, daß die Griechen ein Volk sind, die nichts unüberlegterweise unternehmen und daß sie schon von ihren Vorfahren her bei allen ihren Taten darauf bedacht sind, Lob und nicht Schmach davonzutragen. So wisset ihr denn auch, daß nach der unerhörten Beleidigung, die uns allen eures Königs Sohn Paris durch die Entführung der Fürstin Helena angetan hat, wir, bevor wir die Waffen gegen euch erhoben, zur gütlichen Beilegung dieses Handels eine friedliche Gesandtschaft an euch geschickt haben. Erst als dies vergebens war, ist der Krieg und zwar noch dazu durch einen Überfall von eurer Seite begonnen worden. Auch jetzt, nachdem ihr unseren Arm gefühlt habt und alle euch unterworfenen oder mit euch verbündeten Städte ringsumher in Trümmern liegen, ihr selbst aber nach vieljähriger Belagerung in mannigfaltige Not geraten seid, liegt ein glücklicher Ausgang unseres Streites immer noch in eurer Hand, ihr Troianer! Gebet uns heraus, was ihr uns geraubt habt, und auf der Stelle brechen wir unsere Lagerhütten ab, steigen zu Schiffe, lichten die Anker und verlassen mit der furchtbaren Flotte, die euch so vielen Schaden getan hat, euren Strand für immer. Auch kommen wir nicht mit leeren Händen. Wir bringen eurem König einen Schatz, der ihm lieber sein sollte als die Fremde, die eure Stadt zu seinem und eurem eigenen Fluche beherbergen muß. Wir bringen ihm den Knaben Polydoros, sein jüngstes und geliebtestes Kind, den unser Held Aias in Thrakien dem König Polymnestor entrissen hat und der hier gebunden vor euch steht und von eurem und eures Königs, seines Vaters Entschlüsse, seine Freiheit und sein Leben erwartet. Gebt ihr uns Helena heraus und liefert ihr sie heute noch in unsere Hände, so wird der Knabe seiner Fesseln ledig und bleibt im Hause seines Vaters. Wird uns Helena verweigert, so gehe eure Stadt zugrunde, und vorher wird noch euer König sehen müssen, was er für sein Leben nicht sehen möchte!"

Ein tiefes Stillschweigen herrschte in der ihn umringenden Versammlung des troianischen Volkes, als Odysseus aufgehört hatte zu sprechen. Endlich ergriff der weise und bejahrte Antenor das Wort und sprach: "Liebe Griechen und einst meine Gäste! Alles was ihr uns saget, wissen wir selbst, und müssen in unserem Herzen euch Recht geben; auch fehlt uns der Wille, die Sache zu bessern, nicht, wohl aber die Gewalt. Wir leben in einem Staat, in welchem der Befehl des Königs alles gilt; ihm sich zu widersetzen, erlaubt die Verfassung unseres Reiches, der Glaube, den wir von den Vätern ererbt, und das Gewissen des Volkes keinem von uns. Wir dürfen in allen öffentlichen Angelegenheiten nur alsdann sprechen, wenn der König uns zu Rate zieht, und wenn wir gesprochen haben, so behält er noch immer freie Hand, zu tun, was er will; damit du aber erfahrest, was die Meinung der Besten im Volke über eure Angelegenheit ist, so werden sich die Ältesten unseres Volkes versammeln, und vor euch ihre Meinung abgeben. Dies ist, was uns zu tun übrig bleibt und unser König selbst uns nicht verweigern kann."

Und so geschah es. Antenor veranstaltete einen Rat der Ältesten und führte die Gesandten in denselben ein. Hier führte er den Vorsitz und befragte die Häupter des Volkes der Reihe nach über die Gewalttat des Paris. Die vornehmsten Männer Troias erklärten der Reihe nach, daß sie die Tat für einen fluchwürdigen Frevel hielten, nur Antimachos, ein kriegslustiger, aber tückischer Mann, verteidigte den Raub der griechischen Fürstin. Er war von Paris mit reichlichen Gaben bestochen worden, wo es immer Gelegenheit gäbe, sich seiner anzunehmen und die Auslieferung Helenas zu verhindern. Auch diesmal arbeitete er für diesen Zweck, und hinter dem Rücken der Helden erteilte er den ruchlosen Rat, die Gesandten der Griechen, drei ihrer tapfersten und klügsten Helden, umzubringen. Als aber die Troianer diesen Vorschlag mit Abscheu von sich wiesen, riet er, sie wenigstens so lange zu behalten, bis sie den gefangenen Polydoros, ohne Lösegeld und Tausch, dem Priamos ausgeliefert hätten. Auch dieser Rat wurde als treulos verworfen, und da Antimachos nicht aufhörte, selbst öffentlich in der Versammlung die Helden zu schmähen, so wurde er von seinen Mitbürgern, welche den Griechen ihre Mißbilligung seines Betragens und seiner Grundsätze beweisen wollten, mit Schimpf aus der Versammlung gestoßen.

Erbittert begab sich Antimachos auf die Burg und unterrichtete den König von der Ankunft der griechischen Gesandtschaft. Nun erhob sich im Rate des Königs und seiner Söhne selbst eine lange zwiespältige Beratung, zu welcher auch ein Ältester, der edle Panthoos, der das volle Vertrauen des alten Königs genoß, gezogen wurde. Dieser wandte sich an den tapfersten, edelsten und tugendhaftesten aller Söhne des Königs, an Hektor, mit der flehenden Bitte, dem Rate aller besseren Troianer nachzugeben und die unheilvolle Urheberin des Krieges auszuliefern. "Hat doch", sprach er, "Paris so viele Jahre lang Zeit gehabt, sich seines ungerechten Raubes zu erfreuen und seine Lust zu büßen! Jetzt sind alle unsere verbündeten Städte zerstört, und ihr Untergang weissagt uns unser eigenes Schicksal; dazu haben die Griechen deinen kleinen Bruder Polydoros in ihrer Gewalt, und wir wissen nicht, was aus ihm werden wird, wenn wir den Griechen Helena nicht ausliefern!"

Hektor wurde schamrot und bis zu Tränen betrübt, als er der Untat seines Bruders Paris gedachte. Dennoch sprach er sich im Rate des Königs nicht für die Auslieferung der Fürstin aus. "Sie ist", antwortete er dem Panthoos, "einmal die Schutzflehende unseres Hauses. Als solche haben wir sie aufgenommen, sonst hätten wir sie von der Schwelle des Königspalastes zurückweisen müssen. Statt dies zu tun, haben wir ihr und dem Paris ein prächtiges Haus gebaut, und sie haben darin in Herrlichkeit und Freuden lange Jahre verlebt, und ihr alle habt dazu geschwiegen und habt doch diesen Krieg kommen sehen! Warum sollen wir sie jetzt vertreiben?" - "Ich habe nicht geschwiegen", erwiderte Panthoos, "mein Gewissen ist ruhig; ich habe euch die Prophezeiung meines Vaters mitgeteilt und euch gewarnt, ich warne euch zum zweitenmal. Komme was da will, ich werde die Stadt und den König mit euch getreulich verteidigen helfen, auch wenn ihr meinen heilsamen Rat nicht befolget!" Mit solchen Worten verließ er die Versammlung der Königssöhne.

In dieser wurde zuletzt auf Hektors Vorschlag beschlossen, zwar die Fürstin Helena nicht auszuliefern, wohl aber Genugtuung und Ersatz für alles zu leisten, was mit ihr geraubt worden sei. An ihrer Statt sollte dem Menelaos eine der Töchter des Königs Priamos selbst, die weise Kassandra oder die in Jugendblüte heranreifende Polyxena, mit königlicher Mitgift zur Gemahlin angeboten werden. Als die griechischen Gesandten vor den König und seine Söhne geführt diesen Vorschlag vernahmen, ergrimmte Menelaos und sprach: "Wahrhaftig, es ist weit mit mir gekommen, wenn ich, so viele Jahre des Ehegemahls meiner Wahl beraubt, am Ende von den Feinden mir eine Gattin auslesen lassen muß! Behaltet eure Barbarentöchter und gebt mir das Weib meiner Jugend zurück!" Dagegen erhob sich der Eidam des Königs, der Gemahl Kreusas, der Held Aineias und rief dem Fürsten Menelaos, der die letzten Worte mit verächtlichem Hohnlachen gesprochen hatte, mit rauher Stimme zu: "Du sollst weder das eine noch das andere erhalten, Elender, wenn es nach meiner Abstimmung geht und nach der Meinung aller derjenigen, die den Paris lieben und es mit der Ehre dieses alten Königshauses halten! Noch hat das Reich des Priamos seine Beschützer! Und sollte auch der Knabe Polydoros, der Sohn des Kebsweibes, ihm verlorengehen, so ist Priamos dadurch nicht kinderlos geworden! Sollen die Griechen einen Freibrief von uns erhalten, Frauen zu rauben? Genug der Worte! Wenn ihr euch nicht auf der Stelle mit eurer Flotte davonmacht, so sollet ihr den Arm der Troianer fühlen! Noch haben wir streitlustige Jugend genug, und aus der Ferne kommen uns von Tag zu Tag mächtigere Verbündete, wenn auch die Schwachen in der Nähe erlegen sind!"

Diese Rede des Aineias wurde von lautem Beifallsruf in der troianischen Fürstenversammlung begleitet und die Gesandten nur durch Hektor vor rohen Mißhandlungen geschützt. Voll heimlicher Wut entfernten sie sich mit ihrem Gefangenen Polydoros, den der König Priamos nur aus der Ferne erblickt hatte, und kehrten zu den Schiffen der Griechen zurück. Als sich hier die Nachricht von dem verbreitete, was ihnen in Troia widerfahren war, von den Umtrieben des Antimachos, von dem Übermute des Aineias und aller Priamossöhne, außer Hektor, entstand ein Auflauf unter dem Heere, und alles Volk schrie mit wilden Gebärden um Rache. Ohne lange die Fürsten zu fragen, wurde in einer unordentlichen Kriegerversammlung der Beschluß gefaßt, den unglücklichen Knaben Polydoros büßen zu lassen, was seine Brüder und sein Vater verschuldet. Und auf der Stelle schritten sie zur Ausführung des Beschlossenen. Das arme Kind wurde auf Schußweite unter die Mauern Troias geführt, und als durch den großen Heeresauflauf herbeigelockt König Priamos selbst mit seinen Söhnen auf den Mauern erschien, tönte bald ein kläglicher Wehruf von den Zinnen herab, denn mit ihren eigenen Augen mußten sie sehen, wie die Drohung des Odysseus an dem Knaben vollzogen ward. Steine flogen von allen Seiten gegen sein bloßes Haupt und seinen aller Beschirmung baren Leib, und unter unzähligen Würfen starb er eines kläglichen und grausamen Todes. Den zerfleischten Leichnam gestatteten die Griechenfürsten dem flehenden Vater zum ehrlichen Begräbnis auszuliefern, und die Diener des Königs erschienen, von dem Troianerhelden Idaios begleitet und luden die Leiche des Kindes unter Tränen und Wehklagen auf den Trauerwagen, der sie dem trostlosen Vater zuführen sollte.