Kampf um die Mauer

Der Graben und die Mauer, welche die Griechen um ihre Schiffe her breit aufgetürmt hatten, war ohne ein Festopfer den Göttern zum Trotz von ihnen gebaut worden. Deswegen sollte sie ihnen auch nicht zum Schütze dienen und nicht lange unerschüttert bestehen. Schon jetzt, wo Troia im zehnten Jahre seiner Belagerung schmachtete, beschlossen Poseidon und Apollon, den Bau dereinst zu vertilgen, die Bergströme auf sie hereinzuleiten und das Meer gegen sie zu empören. Doch sollte dies erst nach der Zerstörung Troias ins Werk gesetzt werden.

Jetzt aber war Getümmel und Schlacht rings um den gewaltigen Bau entbrannt, und die Argiver drängten sich, bange vor Hektors Wut, bei den Schiffen eingehegt. Dieser rannte wie ein Löwe im Gewühl umher und munterte die Seinigen auf, den Graben zu durchrennen. Das aber wollte kein Rossegespann ihm wagen. Am äußersten Rande des Grabens angekommen, bäumten sich alle unter lautem Gewieher zurück, denn dieser war zu breit zum Sprunge und zu abschüssig von beiden Seiten zum Durchgang, dazu mit dicht gereihten spitzen Pfählen bepflanzt. Nur die Fußvölker versuchten daher den Übergang. Als dies Polydamas sah, ging er mit Hektor zu Rate und sprach: "Wir wären alle verloren, wenn wir es mit den Rossen wagen wollten; und kämen ruhmlos in der Tiefe des Grabens um. Lasset deswegen die Wagenlenker die Rosse hier am Graben hemmen, uns selbst aber in den ehernen Waffen eine Fußschar bilden, unter deiner Führung über den Graben setzen und den Wall durchbrechen."

Hektor billigte diesen Rat. Auf seinen Befehl stürmten alle Helden von den Wagen, mit Ausnahme der Lenker; sie scharten sich in fünf Ordnungen, die erste unter Hektor und Polydamas, die andere unter Paris, die dritte führte Helenos und Deiphobos, der vierten gebot Aineias; an der Spitze der Bundesgenossen schritten Sarpedon und Glaukos. Diese Fürsten alle aber hatten andere bewährte Helden zur Seite. Von den sämtlichen Streitern wollte nur Asios seinen Wagen nicht verlassen. Er wandte sich mit demselben zur Linken, wo die Achiver selbst beim Bau einen Durchgang für ihre eigenen Rosse und Streitwagen gelassen hatten. Hier sah er die Flügel des Tores offen, denn die Griechen harrten, ob nicht noch ein verspäteter Genösse käme, der, dem Treffen entflohen, Rettung im Lager suchte. So lenkte Asios die Rosse gerade auf den Durchgang los, und andere Troianer folgten ihm zu Fuße mit lautem Geschrei nach. Aber am Eingang waren zwei tapfere Männer aufgestellt, Polypoites, der Sohn des Peirithoos, und Leonteus. Diese standen am Tore, hohen Bergeichen gleich, die, mit langen und breiten Wurzeln in den Boden eingesenkt, in Sturm und Regenschauer unverrückt aushalten. Plötzlich stürzten diese beiden auf die hereinstürmenden Troianer vor, und zugleich flog ein Schwall von Steinen von den festen Türmen der Mauer herab.

Während Asios und die ihn Umringenden verdrießlich den unvermuteten Kampf bestanden und viele erlagen, kämpften andere, zu Fuß über den Graben stürmend, um andere Tore des griechischen Lagers. Die Argiver waren jetzt auf die Beschirmung ihrer Schiffe beschränkt, und die Götter, soviel ihrer ihnen halfen, trauerten herzlich, vom Olymp herabschauend. Nur die zahlreichste und tapferste Schar der Troianer, unter ihnen Hektor und Polydamas, verweilte noch unschlüssig am jenseitigen Rande des Grabens, den sie eben erstiegen; denn vor ihren Augen hatte sich ein bedenkliches Zeichen ereignet. Ein Adler streifte links über das Kriegsheer hin; er trug eine rote zappelnde Schlange in den Klauen, die sich unter seinen Krallen wehrte, und den Kopf rückwärts drehend, den Vogel in den Hals stach; von Schmerzen gequält, ließ er sie fahren und flog davon; die Schlange aber fiel mitten im Haufen der Troianer nieder, die sie mit Schrecken im Staube liegen sahen und in diesem Ereignis ein Zeichen von Zeus erkannten. "Laß uns nicht weitergehen", rief Polydamas, der Sohn des Panthoos, seinem Busenfreunde, dem Hektor, erschrocken zu, "es könnte uns ergehen wie dem Adler, der seinen Raub nicht heimbrachte. Aber Hektor erwiderte finster: "Was kümmern mich die Vögel, ob sie rechts oder links daherfliegen, ich verlasse mich auf des Zeus Ratschlag! Ich kenne nur ein Wahrzeichen, es heißt Rettung des Vaterlandes! Warum zitterst denn du vor dem Kampfe? Sänken wir auch alle an den Schiffen danieder, dir droht kein Todesschrecken, denn du hast kein Herz, in der Feldschlacht auszuhalten; doch wisse, wo du dich dem Kampfe entziehest, so fällst du, von meiner eigenen Lanze durchbohrt!" So sprach Hektor und ging voran, und alle anderen folgten ihm unter gräßlichem Geschrei. Zeus aber schickte einen ungeheuren Sturmwind vom Idagebirge herab, der den Staub zu den Schiffen hinüber wirbelte, daß den Griechen der Mut entsank; die Troianer aber, dem Winke des Donnergottes und der eigenen Kraft vertrauend, die große Verschanzung der Danaer zu durchbrechen sich anschickten, indem sie die Zinnen der Türme herabrissen, an der Brustwehr rüttelten, und die hervorragenden Pfeiler des Walles mit Hebeln umzuwühlen begannen.

Aber die Danaer wichen nicht von der Stelle; wie ein Zaun standen sie mit ihren Schildern auf der Brustwehr und begrüßten die Mauerstürmer mit Steinen und Geschossen. Die beiden Aias machten die Runde auf der Mauer und ermahnten das Streitvolk auf den Türmen, die Tapferen freundlich, die Nachlässigen mit strengen Drohworten. Inzwischen flogen die Steine hin und her wie Schneeflocken; doch hätte Hektor mit seinen Troianern den mächtigen Riegel an der Wallpforte noch immer nicht durchbrochen, wenn nicht Zeus seinen Sohn Sarpedon den Lykier, mit dem goldgeränderten Schilde, wie einen heißhungrigen Berglöwen gegen die Feinde gereizt hätte, daß er schnell zu seinem Genossen Glaukos sprach: "Was ist es, Freund, daß man uns im Lykiervolke mit Ehrensitz und gefüllten Bechern beim Gastmahl wie die Götter ehrt, wenn wir in der brennenden Schlacht nicht auch uns im Vorkampfe zeigen? Auf, entweder wollen wir den eigenen Ruhm, oder durch unseren Tod den Ruhm anderer verherrlichen!" Glaukos vernahm es nicht träge, und beide stürmten mit ihren Lykiern in gerader Richtung voran. Menestheus, von seinem Turme herab, stutzte, als er sie so wütend herannahen und sich und die Seinigen dem Verderben ausgesetzt sah. Ängstlich schaute er sich nach der Unterstützung anderer Helden um; wohl sah er in der Ferne die beiden Aias, unersättlich im Kampfe, dastehen, und noch näher den Teukros, der eben von den Zelten zurückkam; doch hallte sein Hilferuf nicht so weit, er prallte an Helmen und Schilden ab, und das Getöse der Schlacht verschlang ihn. Deswegen schickte er den Herold Thootes zu den beiden Aias hinüber und bat den Telamonier durch ihn, wenn sie beide dies könnten, samt seinem Bruder Teukros ihm aus der Bedrängnis zu helfen. Der große Aias war nicht säumig; er eilte mit Teukros und Pandion, der seines Bruders Bogen trug, der Mauer entlang von innen dem Turme zu. Sie kamen bei Menestheus an, als eben die Lykier an der Brustwehr emporzuklimmen anfingen. Aias brach sogleich einen scharfgezackten Marmorstein zuoberst aus der Brustwehr und zerknirschte damit dem Epikles, einem Freunde des Sarpedon, Helm und Haupt, daß er wie ein Taucher von dem Turme herabschoß. Teukros aber verwundete den Glaukos am entblößten Arme, während er eben den Wall hinanstieg. Dieser sprang ganz geheim von der Mauer, um nicht von den Griechen erblickt und mit seiner Wunde gehöhnt zu werden. Mit Schmerzen sah Sarpedon seinen Bruder aus der Schlacht scheiden, er selbst aber klomm aufwärts, durchstach den Alkmaon, den Sohn Thestors, mit der Lanze, daß dieser der wieder herausgezogenen taumelnd folgte, faßte dann mit aller Gewalt die Brustwehr, daß sie von seinem Stoß zusammenstürzte, und die Mauer, entblößt, für viele einen Zugang gewährte. Doch Aias und Teukros begegneten dem Stürmenden; der letztere traf ihn mit einem Pfeil in den Schildriemen; Aias durchstach dem Anlaufenden den Schild, die Lanze durchdrang ihn schmetternd, und einen Augenblick zuckte Sarpedon von der Brustwehr hinweg. Doch ermannte er sich bald wieder, und gegen die Schar seiner Lykier sich umdrehend, rief er laut: "Lykier, vergesset ihr des Sturmes? Mir allein, und wäre ich der Tapferste, ist es unmöglich, durchzubrechen! Nur wenn wir zusammenhalten, können wir uns die Bahn zu den Schiffen öffnen!" Die Lykier drängten sich um ihren scheltenden König und stürmten rascher empor; aber auch die Danaer von innen verdoppelten ihren Widerstand, und so standen sie, nur durch die Brustwehr getrennt, und über sie hin wild aufeinander loshauend, wie zwei Bauern auf der Grenzscheide stehen und miteinander darum hadern. Rechts und links von den Türmen und der Brustwehr rieselte das Blut hinab. Lange stand die Waage der Schlacht schwebend, bis endlich Zeus dem Hektor die Oberhand gab, daß er zuerst an das Tor der Mauer vordrang und die Genossen teils ihm folgten, teils zu seinen beiden Seiten über die Zinnen kletterten. Am verschlossenen Tor, dessen Doppelflügel zwei sich begegnende Riegel von innen zusammenhielten, stand ein dicker, oben zugespitzter Feldstein. Diesen riß Hektor mit übermenschlicher Gewalt aus dem Boden und zerschmetterte damit die Angeln und die Bohlen, daß die mächtigen Riegel nicht mehr standhielten, das Tor dumpf aufkrachte und der Stein schwer hineinfiel. Furchtbar anzuschauen wie die Wetternacht, im schrecklichen Glänze seiner Erzrüstung, mit funkelndem Auge, sprang Hektor, zwei blinkende Lanzen schüttelnd, in das Tor. Ihm nach strömten seine Streitgenossen durch die aufgerissene Pforte, andere hatten zu Hunderten die Mauer überklettert; Aufruhr tobte allenthalben im Vorlager, und die Griechen flüchteten zu den Schiffen.