ZWEITES BUCH
Ausbruch des Kampfes
Protesilaos - Kyknos

Die Griechen waren noch mit dem Geleite des Königs Telephos beschäftigt, als die Tore Troias sich auftaten und die völlig gerüstete Heeresmacht der Troianer unter Hektors Anführung sich über die skamandrische Ebene ergoß und ohne Widerstand gegen die Schiffe der sorglosen Argiver anrückte. Die Äußersten im Schiffslager, die zuerst zerstreut zu den Waffen griffen und den heranziehenden Feinden entgegeneilten, wurden von der Übermacht erdrückt. Doch hielt das Gefecht mit ihnen die Heerschar der Troianer so lange auf, daß die Griechen im Lager sich sammeln und auch ihrerseits in einem geordneten Heerhaufen den Feinden entgegentreten konnten. Da gestaltete sich nun die Schlacht ganz ungleich. Denn wo Hektor selbst zugegen war, gewannen die Troianer die Oberhand, in die Schlachtreihen aber, die ferne von ihm fochten, drangen die Griechen siegreich ein. Der erste namhafte Held unter den Griechen, der von der Hand des troianischen Fürsten Aineias in dieser ersten Schlacht fiel, war Protesilaos, des Iphiklos Sohn. Als Verlobter Jüngling war er gen Troia gezogen und der erste Grieche, der bei der Landung ans Ufer sprang; so sollte er auch als das erste Heldenopfer fallen, und seine Braut Laodameia, die holdselige Tochter des Argonauten Akastos, sollte den Bräutigam, den sie mit banger Sorge in den Krieg hatte ziehen lassen, nicht wieder erblicken.

Noch war Achilles vom Kampfplatz entfernt. Er hatte dem Mysier, den er einst mit dem Speere verwundet und jetzt mit dem Speere geheilt hatte, das Geleite ans Meer gegeben und sah nachdenklich dem Schiffe nach, das sich in die ferne Flut vertiefte. Da kam sein Freund und Kampfgeselle Patroklos auf ihn zugeeilt, faßte ihn bei der Schulter und rief: "Wo weilst du, Freund, die Griechen bedürfen deiner. Der erste Kampf ist entbrannt, des Königs Priamos ältester Sohn, Hektor, rast an der Spitze der feindlichen Scharen wie ein Löwe, dessen Höhle Jäger umstellt haben. Aineias, der Eidam des Königs, hat aus der Mitte unserer Fürsten den edlen Protesilaos, der an Jugend und Mut dir glich, doch an Kraft dir nicht gleich war, erschlagen. Wenn du nicht kommst, so wird der Mord unter unseren Helden einreißen!" Aus seinen Träumen erwacht, blickte Achilles hinter sich, sah den mahnenden Freund, und in diesem Augenblick drang auch der Hall des Kampfgetümmels in sein Ohr. Da sprang er, ohne ein Wort zu erwidern, durch die Gassen des Schiffslagers seinem Zelte zu. Hier erst fand er die Sprache wieder, rief mit lauter Stimme seine Myrmidonen unter die Waffen und erschien mit ihnen wie ein donnerndes Wetter in der Schlacht. Seinem stürmischen Angriffe hielt selbst Hektor nicht stand. Zwei Söhne des Priamos erschlug er, und der Vater sah wehklagend von den Mauern herab den Tod seiner Kinder von des fürchterlichen Heldenjünglings Hand. Dicht an der Seite des Peliden kämpfte der Telamonier Aias, dessen Riesenleib alle anderen Danaer überragte; vor den Streichen der beiden Helden flohen die Troianer wie eine Herde von Hirschen vor einer Hundekoppel daher; zuletzt wurde die Flucht der Feinde allgemein, und die Troianer schlössen sich wieder in ihre Tore ein. Die Griechen aber begaben sich in Ruhe wieder zu ihren Schiffen und fuhren fort, ihren Lagerbau gemächlich zu vollenden. Achilles und Aias wurden von Agamemnon zu Wächtern der Schiffe bestimmt, und diese setzten wieder andere Helden zu Wächtern über einzelne Abteilungen der Flotte.

Alsdann wandten sie sich zum Begräbnisse des Protesilaos, legten den Leichnam auf einen schön geschmückten und aufgetürmten Scheiterhaufen und begruben seine Gebeine auf einer Halbinsel des Strandes unter schönen, hohen Ulmenbäumen. Noch waren sie mit der Bestattung nicht ganz fertig, als ein zweiter Überfall die sorglos Feiernden erschreckte.

In Kolonis bei Troia herrschte der König Kyknos, der, von einer Nymphe dem Meeresgott Poseidon geboren, auf der Insel Tenedos wunderbarerweise von einem Schwan großgezogen worden war, daher er auch seinen Namen Kyknos, d. h. Schwan, bekommen hatte. Dieser war mit den Troianern verbündet, und ohne besonders dazu von Priamos aufgefordert zu sein, hielt er sich verpflichtet, als er die Landung der fremden Kriegsvölker vor Troia gewahr wurde, seinen alten Freunden zu Hilfe zu kommen. Daher sammelte er in seinem Königreich einen ansehnlichen Heerhaufen, legte sich in der Nähe des griechischen Schiffslagers in einen Hinterhalt und war mit seiner Schar eben erst in diesem Versteck angekommen, als die Griechen aus dem ersten Treffen mit den Troianern als Sieger zurückgekehrt, ihrem gefallenen Helden die letzte Ehre erwiesen. Während sie sorglos und nicht in der vollen Waffenrüstung um den Scheiterhaufen geschart standen, sahen sie sich plötzlich von Streitwagen und Bewaffneten umringt, und ehe sie sich nur besinnen konnten, ob der Boden die Streiter ausgespien habe oder woher sie sonst erschienen seien, hatte Kyknos mit seiner Heeresmacht ein furchtbares Blutbad unter den Griechen angerichtet.

Doch war nur ein Teil der Argiver bei der Leichenfeier des Protesilaos beschäftigt und zugegen. Die anderen bei den Schiffen und in den Lagerhütten waren ihren Waffen näher und eilten den Ihrigen, den Peliden Achilles an der Spitze, bald in voller Rüstung und in geschlossenen Kriegsreihen zu Hilfe. Ihr Anführer selbst saß auf dem Streitwagen, schrecklich anzuschauen, und seine todbringende Lanze traf mit ihrem Stoß bald diesen, bald jenen Koloniten, bis er, in den Reihen der Schlacht nur den Feldherrn der Fremdlinge suchend, diesen im fernen Kampfgewühl an den gewaltigen Stößen erkannte, die auch er, auf einem hohen Streitwagen stehend, rechts und links an die Griechen austeilte. Dorthin lenkte der Held Achilles seine schneeweißen Rosse, und als er nun dem Kyknos gegenüber auf dem Wagen stand, rief er, die bebende Lanze mit nervigem Arme schwingend: "Wer du auch seiest, Jüngling! Nimm diesen Trost mit in den Tod, daß du von dem Sohne der Göttin Thetis getroffen worden!" Diesem Ausruf folgte sein Geschoß. Aber so sicher er die Lanze abgezielt hatte, so rüttelte sie dem Sohne des Poseidon doch nur mit dumpfem Stoße an der Brust; und mit staunendem Blicke maß der Pelide seinen unverwundbaren Gegner. "Wundere dich nicht, Sohn der Göttin", rief dieser ihm lächelnd zu, "nicht mein Helm, den du anzustaunen scheinst, oder mein hohler Schild in der Linken halten die Stöße von meinem Leibe ab, vielmehr trage ich diese Schutzwaffen als bloßen Zierat, wie auch wohl der Kriegsgott Ares zuweilen zum Scherze Waffen anzulegen pflegt, deren er doch gewiß nicht bedarf, seinen Götterleib zu schirmen. Wenn ich alle Bedeckung von mir werfe, so wirst du mir doch die Haut mit deinem Speere nicht ritzen können. Wisse, daß ich am ganzen Leibe fest wie Eisen bin, und daß es etwas heißt, nicht etwa der Sohn einer Meernymphe zu sein, nein, der geliebte Sohn dessen, der dem Nereus und seinen Töchtern und allen Meeren gebeut. Erfahre, daß du dem Sohne Poseidons selbst gegenüberstehst!" Mit diesen Worten schleuderte er seinen Speer auf den Peliden und durchbohrte damit die Wölbung seines Schildes, so daß derselbe durch das Erz und die neun ersten Stierhäute der göttlichen Waffe hindurchdrang; erst in der zehnten Lage blieb das Wurfgeschoß stecken. Achilles aber schüttelte den Speer aus dem Schilde und sandte dafür den seinigen gegen den Göttersohn ab. Aber der Leib des Feindes blieb unverwundet. Selbst das dritte Geschoß, das der Pelide absandte, blieb ohne Wirkung. Jetzt geriet Achilles in Wut, wie ein Stier im Tiergefecht, dem ein rotes Tuch vorgehalten wird und der mit den Hörnern in die Luft gestoßen hat. Noch einmal warf er die Lanze aus Eschenholz nach Kyknos, traf diesen auch wirklich an der linken Schulter und jubelte laut auf, denn die Schulter war blutig. Doch seine Freude war vergeblich; das Blut war nicht Blut des Göttersohnes, es war der Blutstrahl des Menoites, eines neben Kyknos fechtenden und von anderer Hand getroffenen feindlichen Helden. Knirschend vor Wut sprang jetzt Achilles vom Wagen, eilte auf den Gegner zu und hieb mit gezücktem Schwert auf ihn ein, aber selbst der Stahl prallte dumpf an dem zu Eisen gehärteten Körper ab. Da erhob Achilles in der Verzweiflung den zehnhäutigen Schild und zerpochte dem unverwüstlichen Feinde, ganz auf ihn eingedrungen, drei bis viermal die Schläfe mit dem Schildbuckel. Jetzt erst fing Kyknos an zu weichen, und Nebel schwamm ihm vor den Augen; er wandte seine Schritte rückwärts, strauchelte über einen Stein und dabei ergriff ihn Achilles mit der Hand im Nacken und warf ihn vollends zu Boden. Dann stemmte er sich mit Schild und Knien auf die Brust des Liegenden und schnürte dem Feinde mit seinem eigenen Helmband die Kehle zu. Der Fall ihres göttlichen Führers nahm den Koloniten plötzlich den Mut; sie verließen den Kampfplatz in wilder Flucht, und bald war von dem ganzen Überfalle nichts mehr zu sehen als die vielen Leichen von Griechen und Barbaren, die auf dem Felde um den halbvollendeten Grabhügel des Helden Protesilaos zerstreut umherlagen und den um viele der Ihrigen trauernden Argivern neue Arbeit machten.

Die Folge dieses Überfalles war, daß die Griechen in die Landschaft des erschlagenen Königs Kyknos einfielen und aus der Hauptstadt Metora die Kinder desselben als Beute hinwegführten. Dann griffen sie das benachbarte Killa an, eroberten auch diese feste Stadt mit unermeßlicher Kriegsbeute, und kehrten so beladen zu ihrem wohlbewachten Schiffslager zurück.