Achilles und Hektor vor den Toren

Auf einem hohen Turme der Stadt stand der greise König Priamos und schaute nieder auf den gewaltigen Peliden, wie er die fliehenden Troianer vor sich hertrieb, ohne daß ein Gott oder ein Sterblicher erschien, ihn abzuwehren. Wehklagend stieg der König vom Turme hernieder und ermahnte die Hüter der Mauer: "Öffnet die Torflügel und haltet sie, bis alle die fliehenden Völker sich in die Stadt hineingedrängt haben, denn Achilles tobt ganz nahe dem Schwärm, und mir ahnet schlimmer Ausgang. Sind sie innerhalb der Mauer, so füget mir die Flügel wieder wohl ineinander, sonst stürmt der Verderbliche hinter ihnen durch das Tor zu uns herein! Die Wächter schoben die Riegel zurück, die Torflügel taten sich auseinander, und eine Rettungspforte stand offen.

Während aber die Troianer ausgedörrt von Durst, bedeckt mit Staub, durch das Blachfeld flohen und Achilles mit seiner Lanze sie wie wahnsinnig verfolgte, verließ Apollon Troias offenes Tor, die Not seiner Schutzbefohlenen zu wenden. Er erweckte den Helden Agenor, den tapferen Sohn Antenors, und stand ihm, in dunkeln Nebel gehüllt, an die Buche des Zeus gedrängt, selbst zur Seite. So geschah es, daß Agenor zuerst von allen Troianern im Fliehen innehielt, sich besann und schämte und zu sich selbst sagte: "Wer ist es, der dich verfolgt, ist nicht auch ihm der Leib mit spitzem Eisen verwundbar, ist er nicht auch sterblich wie andere Menschen?" So faßte er sich in Gedanken und erwartete den heranstürmenden Achilles, streckte den Schild vor, und rief ihm, die Lanze schwingend, entgegen: "Hoffe nicht so schnell die Stadt der Troianer zu verheeren, Törichter; noch gibt es Männer unter uns, die für Eltern, Weiber und Kinder ihre Feste beschirmen!" Damit entschwang er den Speer und traf die neugegossene zinnerne Knieschiene des Helden, von der die Lanze jedoch, ohne zu verwunden, abprallte. Achilles stürzte sich auf den Gegner, aber Apollon entführte diesen im Nebel und wußte den Peliden selbst durch eine List von der Verfolgung abzulenken. Er selbst verwandelte sich nämlich in die Gestalt Agenors und nahm seinen Weg durch das Weizenfeld, dem Skamanderflusse zu. Achilles eilte ihm fliehend nach und hoffte ihn beständig im Laufe zu erhaschen. Indessen flüchteten die Troianer glücklich durchs offene Tor in die Stadt, die sich bald mit gedrängten Scharen füllte; keiner wartete auf den anderen, keiner schaute sich um, zu sehen, wer gerettet, wer gefallen sei; alle waren nur froh für sich selbst, sich sicher hinter den Mauern zu wissen. Da kühlten sie den Schweiß, löschten den Durst und streckten sich längs der Mauer an der Brustwehr nieder.

Doch die Griechen, Schild an Schulter, wandelten in dichten Scharen auf die Mauer zu. Von allen Troianern war nur Hektor außerhalb des skaeischen Tores geblieben, denn sein Schicksal hatte es so geordnet. Achilles aber war immer noch auf der Verfolgung Apolls begriffen, den er für Agenor hielt. Da stand plötzlich der Gott still, wandte sich um und sprach mit seiner Götterstimme: "Was verfolgest du mich so hartnäckig, Pelide, und vergissest über mich die Verfolgung der Troianer? Du meinest einen Sterblichen zu jagen, und ranntest einem Gotte nach, den du doch nicht töten kannst." Da fiel es wie Schuppen von den Augen des Helden, und er rief voll Ärger aus: "Grausamer, trügerischer Gott! daß du mich so von der Mauer hinweglocken konntest! Fürwahr, noch viele hätten mir im Staube knirschen müssen, ehe sie in Ilion einzogen! Du aber hast mir den Siegesruhm geraubt und sie gefahrlos gerettet, denn du hast als ein Gott keine Rache zu fürchten, wie gern ich mich auch an dir rächen möchte!"

Achilles wandte sich und flog trotzigen Sinnes auf die Stadt zu, wie ein ungestümes, sieggewohntes Roß am Wagen. Ihn erblickte zuerst der greise Priamos von der Warte des Turmes herab, auf der der König wieder Platz genommen hatte, und er erschien ihm leuchtend, wie der ausdörrende Hundsstern am Nachthimmel dem Landmann verderbenbringend entgegenfunkelt. Der Greis schlug sich die Brust mit den Händen und rief wehklagend zu seinem Sohne herab, der außerhalb des skaeischen Tores stand und voll heißer Kampfgier auf den Fehden wartete: "Hektor, teurer Sohn! Was weilest du draußen einsam und von allen anderen getrennt! Willst du dich denn mutwillig dem Verderben in die Hände geben, ihm, der mir schon so viele tapfere Söhne geraubt hat! Komm herein in die Stadt, beschirme hier Troias Männer und Frauen, verherrliche nicht den Ruhm des Peliden durch deinen Tod! Erbarme dich auch meiner, deines elenden Vaters, so lange er noch atmet, meiner, den Zeus verdammt hat, an der äußersten Schwelle des Alters in Gram hinzuschwinden, und so unendliches Leid mit anzuschauen! Meine Kinder werde ich sehen müssen erwürgt, meine Töchter hinweggerissen, ausgeplündert die Kammern meiner Burg, die stammelnden Kinder zu Boden geschmettert, die Schwiegertöchter fortgeschleppt. Zuletzt liege ich wohl selbst, von einem Speerwurf oder Lanzenstich ermordet, am Tore des Palastes, und die Haushunde, die ich aufgezogen, zerfleischen mich und lecken mein Blut!"

So rief der Greis vom Turme herab und zerraufte sein weißes Haar. Auch Hekabe, die Mutter, erschien an seiner Seite, zerriß ihr Gewand und rief weinend hinunter: "Hektor, gedenke, daß meine Brust dich gestillt hat; erbarme dich meiner! Wehre dem schrecklichen Manne hinter der Mauer, aber miß dich nicht mit ihm im Vorkampfe, du Rasender!"

Das laute Weinen und Rufen seiner Eltern vermochte den Sinn Hektors nicht umzustimmen; er blieb unbeweglich auf dem Platze und erwartete den herannahenden Achilles. "Damals hätte ich weichen müssen", sprach er in seinem Herzen, "als mein Freund Polydamas mir den Rat gab, das Heer der Troianer in die Stadt zurückzuführen! Jetzt, nachdem ich das Volk durch meine Betörung verderbt habe, fürchte ich mich vor den Männern und Weibern Troias, daß nicht einer der Schlechteren mir dereinst sage: im Vertrauen auf seine eigene Stärke hat Hektor das Volk preisgegeben. Viel besser ich siege oder ich falle im Kampfe mit dem Gefürchteten. - Oder wie? Wenn ich Schild und Helm jetzt zur Erde legte, meinen Speer an die Wand lehnte, ihm entgegenginge, ihm Helena, alle Schätze, die Paris geraubt, zudem anderes Gut die Fülle anböte; wenn ich alsdann den Fürsten Troias einen Eidschwur abnähme, nichts insgeheim zu entziehen, all unsere Schätze und Vorräte in zwei Teile zu teilen . . . Doch, wehe mir, was für Gedanken kommen mir ins Herz? Ich mich ihm flehend nahen? Ohne Erbarmen würde er mich, den Entblößten, niederhauen, wie ein Weib! Fürwahr, es würde schön lassen, wenn ich mich zu einem traulichen Gespräche ihm beigesellen wollte, wie ein Jüngling wohl mit der Jungfrau plaudert! Besser, wir rennen aufeinander an zum Kampfe, da es sich bald entscheiden muß, welchem von uns beiden die Olympischen den Sieg verliehen!" Solche Gedanken wog Hektor im Geiste ab und blieb.