Theseus' Ende

In seiner langen Gefangenschaft im Hades hatte Theseus Zeit gehabt, das Unbesonnene und Unedle seiner letzten Handlungsweise, die mit seinem übrigen Heldentum gar nicht zusammenstimmte, zu erkennen und zu bereuen. Er kam als ernster Greis zurück und vernahm die Rettung Helenas durch ihre Brüder nicht mit Unwillen, denn er schämte sich seiner Tat. Mehr bekümmerte ihn die Zwietracht, die er im Staate antraf, und obgleich er die Zügel der Regierung ergriff und die Partei des Menestheus zurückdrängte, genoß er doch keine rechte Ruhe mehr sein Leben lang. Und als er das Ruder des Staates mit Ernst führen wollte, brachen aufs neue Empörungen gegen ihn aus, an deren Spitze immer Menestheus stand, welcher hinter sich die Partei der Edlen hatte, die noch immer von Pallas, seinem Oheim, und dessen besiegten und erschlagenen Söhnen sich die Pallantiden nannten. Diejenigen, welche ihn vorher gehaßt hatten, verlernten allmählich auch die Furcht vor ihm, und das gemeine Volk hatte Menestheus so verwöhnt, daß es, anstatt zu gehorchen, immer nur geschmeichelt werden wollte. Anfänglich versuchte nun Theseus gewaltsame Mittel; als aber aufwieglerische Umtriebe und offene Widersetzlichkeit alle seine Bemühungen vereitelten, da beschloß der unglückliche König, seine unbotmäßige Stadt freiwillig zu verlassen, nachdem er schon vorher seine Söhne Akamas und Demophon heimlich nach Euboia zu dem Fürsten Elephenor geflüchtet hatte. In einem Flecken von Attika, Gargettos genannt, sprach er feierliche Verwünschungen gegen die Athener aus, da wo man noch lange nachher das Verwünschungsfeld zeigte; dann schüttelte er den Staub von seinen Füßen und schiffte sich nach Skyros ein. Die Einwohner dieser Insel hielt er für seine besonderen Freunde, und er besaß darauf ansehnliche Güter, die er von seinem Vater ererbt hatte.

Damals war Lykomedes König von Skyros. Zu diesem ging Theseus und bat sich von ihm seine Güter aus, um auf denselben seinen Sitz zu nehmen. Aber das Geschick hatte ihn einen schlimmen Weg geführt. Lykomedes, sei es, daß er den großen Ruf des Mannes fürchtete, sei es, daß er mit Menestheus in geheimem Einverständnis war, dachte darauf, wie er den in seine Hände gegebenen Gast, ohne Aufsehen zu erregen, aus dem Wege räumen könnte. Er führte ihn deswegen auf den höchsten Felsengipfel der Insel, der schroff in das Land hinaussprang. Er wollte ihn, war sein Vorgeben, die schönen Güter, die sein Vater auf dem Eilande besessen hatte, mit einem Blicke überschauen lassen. Theseus, oben angekommen, ließ seine Augen gierig über die schönen Gefilde streifen; da gab ihm der treulose König einen Stoß von hinten, daß er über die Felsen hinabstürzte und nur sein zerschmetterter Leichnam in der Tiefe ankam.

Zu Athen war Theseus von dem undankbaren Volke bald vergessen, und Menestheus regierte, als wenn er den Thron von vielen Ahnen ererbt hätte. Die Söhne des Theseus zogen mit dem Helden Elephenor als gemeine Krieger vor Troia. Viele Jahrhunderte später, nach dem glorreichen Kriege gegen die Perser, befahl das Orakel von Delphi den Athenern, des Theseus Gebeine zu holen und ehrenvoll zu bestatten. Aber wo sollten sie dieselben suchen? Und wenn sie auch auf der Insel Skyros das Grab gefunden hätten, wie sollten sie seine Überreste aus den Händen roher und den Fremden unzugänglicher Barbaren erlösen? Da geschah es, daß der berühmte Athener Kimon, der Sohn des Miltiades, auf einem neuen Feldzuge die Insel Skyros eroberte. Während er nun mit großem Eifer das Grab des Nationalheros aufsuchte, bemerkte er über einem Hügel einen Adler schwebend. Er machte halt an dieser Stelle und sah bald, wie der Vogel herabschoß und die Erde des Grabhügels mit seinen Krallen aufscharrte. Kimon erblickte in diesem Zeichen eine göttliche Fügung, ließ nachgraben und fand tief in der Erde den Sarg eines großen Leichnams, daneben eine eherne Lanze und ein Schwert. Er und seine Begleiter zweifelten nicht daran, des Theseus Gebeine gefunden zu haben. Die heiligen Überreste wurden von Kimon auf ein schönes Kriegsschiff mit drei Ruderbänken gebracht und in Athen mit Jubel, unter glänzenden Aufzügen und Opfern empfangen. Es war, als ob Theseus selbst in die Stadt zurückkehrte. So bezahlten nach Jahrhunderten die Nachkommen dem Begründer der Freiheit und Bürgerverfassung Athens den Dank, den ihm die schnöde Mitwelt schuldig geblieben war.