Oidipus in Theben, heiratet seine Mutter
Nicht lange Zeit, nachdem dieses geschehen, war vor den Toren der Stadt
Theben in Boiotien die Sphinx erschienen, ein geflügeltes Ungeheuer,
vorn wie eine Jungfrau, hinten wie ein Löwe gestaltet. Sie war eine
Tochter des Typhon und der Echidna, der schlangengestalteten Nymphe, der
fruchtbaren Mutter vieler Ungeheuer, und eine Schwester des Höllenhundes
Kerberos, der Hydra von Lerna und der feuerspeienden Chimaira. Dieses
Ungeheuer hatte sich auf einen Felsen gelagert und legte dort den Bewohnern
von Theben allerlei Rätsel vor, die sie von den Musen erlernt hatte.
Erfolgte die Auflösung nicht, so ergriff sie denjenigen, der es übernommen
hatte, das Rätsel zu lösen, zerriß ihn und fraß
ihn auf. Dieser Jammer kam über die Stadt, als sie eben um ihren
König trauerte, der - niemand wußte von wem - auf einer Reise
erschlagen worden war, und an dessen Stelle Kreon, Bruder der Königin
Iokaste, die Zügel der Herrschaft ergriffen hatte. Zuletzt kam es,
daß dieses Kreon eigener Sohn, dem die Sphinx auch ein Rätsel
aufgegeben, und der es nicht gelöst hatte, ergriffen und gefressen
worden war. Diese Not bewog den Fürsten Kreon, öffentlich bekannt
zu machen, daß demjenigen, der die Stadt von der Würgerin befreien
würde, das Reich und seine Schwester Iokaste als Gemahlin zuteil
werden sollte. Eben als jene Bekanntmachung öffentlich verkündigt
wurde, betrat Oidipus an seinem Wanderstabe die Stadt Theben. Die Gefahr
wie ihr Preis reizten ihn, zumal da er das Leben, wegen der drohenden
Weissagung, die über ihm schwebte, nicht hoch anschlug. Er begab
sich daher nach dem Felsen, auf dem die Sphinx ihren Sitz genommen hatte,
und ließ sich von ihr ein Rätsel vorlegen. Das Ungeheuer gedachte
dem kühnen Fremdling ein recht unauflösliches aufzugeben, und
sein Spruch lautete also: "Es ist am Morgen vierfüßig,
am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen
Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße;
aber eben wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit
seiner Glieder ihm am geringsten." Oidipus lächelte, als er
das Rätsel vernahm, das ihm selbst gar nicht schwierig erschien.
"Dein Rätsel ist der Mensch", sagte er, "der am Morgen
seines Lebens, solange er ein schwaches und kraftloses Kind ist, auf seinen
zwei Füßen und seinen zwei Händen geht; ist er erstarkt,
so geht er am Mittag seines Lebens nur auf den zwei Füßen;
ist er endlich am Lebensabend als ein Greis angekommen und der Stütze
bedürftig geworden, so nimmt er den Stab als dritten Fuß zu
Hilfe." Das Rätsel war glücklich gelöst, und aus Scham
und Verzweiflung stürzte sich die Sphinx selbst vom Felsen und zu
Tode. Oidipus trug zum Lohn das Königreich von Theben und die Hand
der Witwe, welche seine eigene Mutter war, davon. Iokaste gebar ihm nach
und nach vier Kinder, zuerst die männlichen Zwillinge Eteokles und
Polyneikes, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die jüngere
Ismene. Aber diese vier waren zugleich seine Kinder und seine Geschwister.