DER ZAUBERER VIRGILIUS. WIE VIRGILIUS ZUR SCHULE GESCHICKT WARD UND WELCH ABENTEUER IHM DA WIDERFAHREN IST.

Als Virgilius geboren wurde, bebte die Stadt Rom. Und er ward klug und verständig und ward auch fleißig zur Schule gehalten, und kurz darauf starb sein Vater. Und als sein Vater tot war, mochte seine Mutter nicht wieder heiraten, denn sie hatte ihren Herrn und Gemahl zu sehr geliebt. Gleichwohl wollten ihre Verwandten sie ihrer Renten und Güter berauben, worunter eins der stärksten Schlösser um Rom war. Und oftmals beklagte sie sich bei dem Kaiser, der ihrem Manne nah verwandt gewesen; aber der Kaiser war ein böser Mann und nicht beliebt bei seinen Großen, noch bei den Untertanen; so ward auch auf ihre Klage nicht gehört.

Dieser Kaiser starb aber bald und sein Sohn Perseus ward Kaiser nach seines Vaters Tod und brachte alle Römer so unter sich, daß er sehr gefürchtet ward. Virgilius aber war an der Schule zu Toledo, wo er eifrig studierte, denn er hatte viel Verstand. Auf eine Zeit hatten die Schüler Urlaub, draußen im Freien zu spielen und sich zu erholen, nach der alten Sitte. Das tat auch Virgilius, und als er allein in dem nahen Gebirge umherstrich, fand er in einem Berge eine Höhle oder Spelunke. Da ging er hinein und ging so tief, daß er kein Licht mehr sah. Da ging er noch tiefer hinein und fand da wieder etwas Licht, das von oben einfiel. Da hörte er eine Stimme, die ihm rief: «Virgilius, Virgilius!» Er sah sich um, mochte aber niemand sehen. Da sprach Virgilius: «Wer ruft mir da?» Da hörte er wieder eine Stimme, sah aber niemand. Die Stimme sagte: «Virgilius, siehst du nicht hier die kleine Leiste, die mit dem Zeichen Tau bezeichnet ist?» Virgilius sprach: «Ja, ich sehe sie.» Da sprach die Stimme: «Nimm die Leiste hinweg und laß mich heraus.» Da antwortete Virgilius der Stimme, die unter der kleinen Leiste war: «Wer seid Ihr, der so zu mir spricht?» Da ward ihm geantwortet: «Ich bin ein Teufel, der aus dem Leibe eines Juden hierher gebannt wurde bis zum Tage des Gerichts, es wäre denn, daß ich von Menschenhänden befreit würde. Darum bitte ich dich, Virgilius, laß mich heraus; ich will dir auch viel Bücher zeigen, daraus du die Kunst der Negromantie erlernen magst, und mit dieser Kunst sollst du Mittel finden, alles zu tun und zu erfahren, was du nur willst. Deinen Freunden kannst du dann helfen und deine Feinde kränken, wie du willst.»

Durch so große Versprechungen ward Virgilius versucht; er wollte aber erst sicher sein und ließ sich die Bücher geben und zeigen, wie er sie gebrauchen sollte. Als Virgilius nun sicher war, kam er und schob die Leiste auf einer Seite hinweg und fand darunter ein kleines Löchlein; daraus wand sich der Teufel wie ein Aal.

Und als er ganz heraus war, stand er vor Virgilius in Gestalt eines großen Mannes. Darüber verwunderte sich Virgilius, daß ein so großer Mann in so kleinem Löchlein Raum hätte. Da sprach Virgilius: «Solltest wohl wieder in das kleine Loch kriechen können, nun du so groß bist?» «Das kann ich wohl», sagte der Teufel. Virgilius sprach: «Ich wette um das beste Pfand, das ich habe, daß du das nicht tust.»

«Gut», sagte der Teufel, «ich bin's zufrieden.» Da wand sich der böse Feind wieder in das Loch, und als er darin war, schob Virgilius die Leiste wieder vor das Loch, so daß der Teufel betrogen war und nicht wieder heraus konnte, sondern da gefangen bleiben mußte. Da schrie der Teufel entsetzlich: «Virgilius, was hast du getan?» Virgilius antwortete: «Bleib hier bis zu deinem bestimmten Tage.» Und von diesem Tage an ward Virgilius sehr geschickt in der Schwarzkunst.


Quelle: Text nach dem Volksbuch 'Eine schöne Historie von dem Zauberer Virgilius, seinem Leben und Tod und den wunderbaren Dingen, die er durch Negromantie und mit Hilfe des Teufels vollbrachte. Frankfurt am Main. Druck und Verlag von H. L. Brönner. Gedruckt in diesem Jahr, ed. Simrock, S. 7 - 9
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 11, S. 12