RETHRA, DAS HEILIGTUM DER SLAWEN

Otto I. hatte viel Krieg mit den Slawen zu führen, die die Ostmarken seines Reiches unsicher machten. Zu ihnen gehörten die mächtigen Retharier, deren Stadt Rethra war, der Sitz der Abgötterei. Hier war den Göttern ein gewaltiges Heiligtum, unter denen Redigast das vornehmste war, errichtet worden. Des Gottes Bildnis aber war aus Gold und ruhte auf purpurnem Lager. Die Stadt selbst zählte neun Tore und war auf allen Seiten von einem tiefen See umschlossen. Eine hölzerne Brücke führte hinüber, und nur dem war es gestattet, seinen Weg darüberzunehmen, der sich zu opfern oder eine Weissagung zu hören nahte.

Die Stadt Redigast oder Radigast war von dreieckiger Gestalt, hatte drei Tore und wurde von allen Seiten durch einen ungeheuren, von den Einwohnern nie berührten heiligen Hain umgeben. Zwei der Tore standen jedem in die Stadt gehenden Menschen offen, das dritte, das nach Osten lag und am kleinsten war, führte zu einem nahe gelegenen See. An diesem Tore stand ein aus Holz kunstvoll errichtetes Heiligtum, das anstatt auf Grundsteinen auf den Hörnern verschiedener Tiere ruhte. Die Wände waren mit geschnitzten Götterbildern geziert. Im Innern standen die Bildsäulen der Götter, mit Helm und Panzer bekleidet und furchtbar anzuschauen. An diesem Orte befanden sich die Feldzeichen des Volkes, die nur im Falle der Kriegsnot von hier weggenommen wurden. Um diese Fahnen sorgfältig zu behüten, waren von den Einwohnern des Landes besondere Diener angestellt. Untereinander heimlich murmelnd, wühlten sie, wenn sich das Volk zum Opfer nahte, zitternd die Erde auf, um aus den hervorgezogenen Losen Gewißheit über gewisse Dinge zu suchen. War das geschehen, dann bedeckten sie die Lose mit grünem Rasen und führten ein Roß, das unter allen für das größte gehalten und im Lande als heilig verehrt wurde, mit demütigem Flehen über die Spitzen zweier in die Erde gesteckter und sich kreuzender Lanzen.

So suchten sie, nachdem sie schon vorher durch Losung die Zukunft zu erforschen getrachtet hatten, durch jenes heilige Roß nach einem zweiten Zeichen, und erst wenn in beiden Fällen sich dasselbe Wahrzeichen kundgab, ging man an die Ausführung der Tat. Auch erzählte man sich hier von alters her, daß, sobald der wilde Schrecken eines lange währenden Kampfes drohte, aus den Wogen des obenerwähnten Sees ein gewaltiger Eber mit leuchtenden Zähnen hervorkäme und sich unter furchtbarem Getöse im Angesicht vieler im Sumpfe wälzte.


Quelle: Thietmar v. Merseburg, Chronicon VI, S. 17 f. (nach Erler 1882, II, S. 254 f.)
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 23, S. 21