HERO UND LEANDER

Ein Fürst jenseits des Meeres hatte einen Sohn, Leander, der schönste adeligste Jüngling. Die Burg lag am Gestade, und gegenüber, jenseits des Meerarmes, stand eine andre Burg, deren Herrin die reizendste Jungfrau war: Hero, sechzehn Jahr alt und von Gottes Hand so schön gebildet, wie kein Maler sie zu malen vermöchte: goldgelb ihr Haar, die Brauen braun, die Augen klar, die Wangen wie Rosen und Lilien, der Mund rubinglühend, die Zähne wie Elfenbein, das Kinn lieblich, Nacken und Busen blendend weiß. Beide liebten sich herzinniglich, konnten jedoch nicht anders zusammenkommen, als daß Leander nachts hinüberschwamm, geleitet von einer Leuchte, die Hero über die Zinne hinaussteckte.

So geschah es manches Mal, bis einst Wind und Wellen so heftig gingen, daß Leander nicht hinüberzuschwimmen wagte. Hero trauerte und schrieb ihm einen sehnsüchtigen Brief, worin sie klagte, daß er wohl durch Jagen, Saitenspiel, Brettspiel, Fechten, Schießen und ritterliche Fahrten sich die Zeit kürzen könne, sie dagegen nur mit ihrer alten Amme stets von ihm rede, die ihr vorspiegele, daß er bald käme, aber darüber einschlafe; sie küsse oft das Gewand, welches er anlege, wenn er herübergeschwommen, und wenn sie, schlaflos liegend, endlich am Morgen einschlafe, täusche sie ein seliger Traum, aus dem sie um so schmerzlicher erwache; dazu fürchte sie noch, daß er etwa eine andere liebe: nur Wiedersehen könne sie beruhigen.

Ein Fischer überbrachte diesen Brief dem Jünglinge, der tief seufzte und von Schmerz erbleichte. Er schrieb zärtlich zurück: es gebe keine Freude für ihn ohne sie; die Zeit der Trennung dünke ihm schon sieben Jahre lang; wenn er, schlaflos, nachts ihre Leuchte sehe, so gedenke er der schönen stillen Nacht, als er zuerst zu ihr schwamm, wie ihr Licht seine Arme gekräftigt, wie sie von der Burg ihm entgegengekommen, ihn lieblich umfangen, in einen warmen Mantel gehüllt und die seligste Nacht sie beide eingewiegt habe, bis am Morgen die Amme ihn zum leidigen Scheiden geweckt und er trübselig zurückgeschwommen. Jetzt stürme zwar das Meer, dennoch könne er nicht länger fernbleiben und wolle in nächster Nacht kommen; und wenn er verunglücke, empfehle er ihr seine Seele.

Diesen Brief sandte er voraus und schwamm nachts durch das tobende Meer. Der Sturm aber wuchs mit Donner und Blitz, und der Regen strömte, so daß der kühne Schwimmer die Leuchte nicht sah und, von Wind und Wellen getrieben, endlich ermüdete; er beklagte sein junges Leben, noch mehr sein Scheiden von der Geliebten, und seine Seele Gott befehlend, verschied er.

Am Morgen sah man Leanders Leichnam auf dem Meere schwimmen; als Hero dieses vernahm, sank sie auf der Stelle leblos nieder und vereinte sich im Tode mit ihm.


Quelle: F. H. von der Hagen, Gesamtabenteuer I, 1850 (Neudruck Darmstadt 1961), S. 315 ff.
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 10, S. 10