DAS KEUSCHHEITSBILD

Ein Bild machte Virgilius hoch in der Luft, das nicht fallen konnte, und die Römer mochten nicht Türen noch Fenster auf tun, sie sahen allzeit das Bild. Und dies Bild hatte die Kraft, daß keine Frau, nachdem sie das Bild gesehen hatte, mehr Lust empfand, sich fleischlich zu ergötzen. Und hierüber waren die römischen Frauen sehr ungehalten und klagten es der Frau des Virgilius, daß sie also um ihr Vergnügen kämen, und die Frau des Virgilius versprach ihnen, daß sie sich bemühen wollte, das Bild zu Fall zu bringen. Da wartete Virgilius' Frau die Zeit ab, da Virgilius außen war, und ging über die Brücke, die Virgilius in der Luft gemacht hatte und stieß das Bild hinunter, und die Frauen taten nun wieder ihren Willen. Und als Virgilius wiederkam und sein Bild nicht mehr fand, ward er betrübt und sprach zu sich selbst, es sollte ihnen nichts helfen, denn er wolle es wieder aufstellen und schwur auch, er wolle es in Erfahrung bringen, wer das Bild heruntergeworfen hätte. Da stellte er es wieder auf und fragte seine Frau, ob sie das Bild heruntergeworfen hätte. Sie sprach aber: «Nein.»

Da kamen die römischen Frauen wieder zu Virgilius' Frau und sagten, es sei nun ärger denn zuvor, und baten sie, das Bild noch einmal hinabzuwerfen. Virgilius aber, der gern gewußt hätte, wer das Bild herabgeworfen, belauschte seine Frau in einem heimlichen Winkel, aus dem er hörte, wie sich die Frauen bei seiner Frau über das Bildnis beschwerten. Und da klomm des Virgilius Weib hinauf und faßte das Bild beim Kopf und warf es hinab. Virgilius aber, der sich versteckt hatte, sah es und nahm sein Weib und warf sie dem Bilde nach, von demTurm hinab, und sprach: «Der Teufel tue euch Weibern genug. Ich hatte dies nur zu euerm Besten getan; aber ich will mich nicht mehr darum kümmern und die Frauen ihren Willen tun lassen.»


Quelle: Text nach dem Volksbuch 'Eine schöne Historie von dem Zauberer Virgilius, seinem Leben und Tod und den wunderbaren Dingen, die er durch Negromantie und mit Hilfe des Teufels vollbrachte. Frankfurt am Main. Druck und Verlag von H. L. Brönner. Gedruckt in diesem Jahr, ed. Simrock, S. 27 f.
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 14, S. 15