§. 12. Entstehung der Deutschen Sage in der Völkerwanderung.

In der alten Nordischen Sage ist Sigurd oder unser Sigfrid, der Schlangentödter [Schlangentöter] und der wackerste aller Heerkönige, unstreitig der Hauptheld. In der Wilkinasaga tritt auch Dietrich hervor als Seele der eigentlich Deutschen Sage. Nun finden sich in derselben zwar noch Anklänge der alten Religion und unleugbares Fortleben heidnischer Vorstellungen: allein diese Einheit der Geschichten der Helden mit der der Asen und mit Dogmen der alten Naturreligion ist keine so tiefe, als wofür man sie wohl hat ausgeben wollen, weil hier nicht mehr der Glaube als solcher, sondern die freie poetische Gestaltung der Sage Princip ihres Lebens ward, wenngleich eine solche Schöpfung, als vom Geist eines Volkes bewegt, keine Willkühr [Willkür] und Träumerei ist, sondern allerdings eine geistige Nothwendigkeit, den ergreifenden Sinn enthält. Daß die Zeit der Völkerwanderung für ein äußeres Verständniß [Verständnis] der Deutschen Sage vorzüglich zu beachten sey, ist gewiß, denn sie begründete und entwickelte ganz andere Verhältnisse, als das Germanische Leben in den früheren Kriegen der Cimbern und Teutonen, Helvetier, Allemannen, Katten, Bojen u. s. f. mit den Römern zeigt. Die Gothen, vorzüglich die Ostgothen [Oatgoten], Burgunder, Franken, Longobarden und in geringerem Maaße die Thüringer geben in ihrem großen Kampf mit den Hunnen einerseits, mit den östlichen und westlichen Römern andererseits, die objective Grundlage unseres
Epos. Nach der Völkerwanderung sammelte sich nun die Erinnerung der endlich in bestimmten Sitzen ruhiger gewordenen Völker in eine Vielheit von Sagen, welche sich dadurch vereinfachten, daß sie wie peripherische Puncte sich um die bedeutendsten Könige und Führer der Stamme als den bleibenden Centris anlegten, wie Attila, Ermanarich, Dietrich, Odoacer, Gibech, Sigebert, Alboin u s. f.

Die vorzüglichste Arbeit hat in dieser Hinsicht W. Grimm im ersten Band der Altdeutschen Wälder geliefert unter der Aufschrift: Zeugnisse über die Deutsche Heldensage. S. 195 - 323. Grimm hat diese Erinnerungen sehr zweckmäßig in Perioden geordnet; die erste bis zum neunten Jahrhundert, wo Jornandes, de rebus geticis b. Muratori T. I.) die Hauptquelle ist; die zweite vom neunten bis zum zwölften Jahrhundert, wo Eginhart, Theganus, Saro Poeta und Frodoardus; die dritte vom zwölften bis sechzehnten Jahrhundert, wo außer den Nordischen und heimisch-Deutschen Zeugnissen die Ungarischen Traditionen um 1358 in der Chronik von Thwroz, der selbst eine ältere zur Basis dient, Saxo Grammalicus, Conrad von Lichtenau (1230 Chronicon Uspergense p. 85), Otto von Freisingen (L.V. c 3) u a.; die vierte endlich vom 16ten Jahrhundert an, wo Aventi'n's Bairische Chronik, Crusius (st. 1607) schwäbische Chronik u. a. angeführt werden. - Hiermit ist A. W. Schlegel's Beurtheilung dieser Arbeit in den Heidelberger Jahrb. 1815. S. 721 u. ff. zu verqleichen, wo Berichtigungen und Zusätze gegeben sind. - Die consequenteste und verständigste Deutung der Heldensage vom religiösen Standpunkt aus hat Mone im zweiten Theil der Geschichte des Heithums S. 273 - 330 gegeben.


Quelle: Das Heldenbuch und die Nibelungen, Karl Rosenkranz, Halle 1829, S. 18f
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