§. 3. Sage.

Zwar nicht das an und für sich Ewige selbst, aber das menschlich-Geistige ist das, was in der Weise der Vorstellung die Sage zum Element hat und darum zwischen dem ruhigen Kreise der Mythen und dem wandelbaren Leben der Geschichte die Mitte ausmacht. Sie ist nicht Allegorie, welche einen Gedanken in eine vorgestellte Begebenheit einbildet, wie die Vereinigung von Materie und Geist in der Allegorie von Eros und Psyche, die Verwirklichung christlicher Gemeinschaft in der von einem neuen Jerusalem Gegenstand ist. Eben so wenig ist sie das vom freien Spiel der Phantasie ausgehende Mahrchen, welches gerade durch seine stete Verwirklichung der Unmöglichkeit die Empfindung des Unbedingten und Wunderlichen erregt, wie Goethe's neue Melusina und das Westphälische Mährchen vom Machandelbaum. Sondern die Sage hat es mit den wesentlichen Elementen vom sittlichen Leben eines Volksgeistes zu thun. Deswegen ist sie entweder Stamm sage, wie fast alle bedeutenden Stamme dergleichen haben, die Schweizer z. B. über ihre Einwanderung aus Schweden, die Bretonen über die ihrige aus Troja, die Scandinavier [Skandinavier] über die ihrige aus Asien u. s. f. Oder sie ist Sage von dem königlichen Ge schlechte, welchem die Führung und Negierung des Stammes anvertraut worden, wie die Sage von den Atriden, Labdakiden, von den Amelungen, Kerlingen u. s f. Hier kann auch der Einzelne hervortreten, wie in den Sagen von den Römischen Königen. Zunächst ist es dann die Familie, welche ihre eigene Sagenwelt bildet und sie theils in eine große auch dem Volk ungehörige Persönlichkeit zusammennimmt, theils an einem Ort haften läßt.


Quelle: Das Heldenbuch und die Nibelungen, Karl Rosenkranz, Halle 1829, S. 4f
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