§. 20. E. Kampf der Deutschen mit dem Morgenlande.
Es kann in der Geschichte der Poesie durchaus kein äußeres
Regulativ bestimmend sein, sondern allein die weitere Entwickelung
des in ihr sich bildenden Geistes und das Wachsthum seiner Welt
vermag sie fortzuführen. Im Heldenbuch wird nun freilich Dietrich
von Bern seiner Abkunft nach von Dietmar, dieser von Amelung, dieser
von Wolfdietrich, dieser von Hugdietrich u. s. f. bis zum König
Anczius (Anzrus) hinauf abgeleitet und müßten sonach
Otnit, Hug - und Wolfdietrich oben an stehen. Allein in solcher
Stellung wird das Verhältniß gar nicht beachtet, was
die Poesie zur Sage hat. In der epischen Dichtung ist die Sage des
Volkes allerdings der erste Keim, allein, wenn auch, von ihm getragen,
bricht sie doch selbst erst in der schön gestalteten Blüthe
der freien Dichtung hervor. Es ist bisher zu zeigen versucht werden,
wie die Blutrache in Verbindung mit anderen mehr äußeren
Motiven das erste, das Lehensverhätniß des Herrn und
seiner Mannen das zweite Princip war. Das dritte war dann die freie
Neigung und Liebe zum Weibe. Nun läßt die Poesie keineswegs
die früheren Elemente zurück, sondern, sie nicht neben
einander bestehen lassend, hebt sie dieselben immerfort in sich
zu reicherem Leben auf, wie schon die Vereinigung der Fränkischen
und Gothischen Sage im Nibelungenliede gezeigt worden. Ein wirklicher
Fortgang ist also in der Poesie da vorhanden, wo neue Elemente in
ihr erscheinen. Ein solches Moment macht aber der in den Sagen und
Dichtungen des Mittelalters im zwölften und dreizehnten Jahrhundert
durchgreifende Orient aus, dessen Erscheinung im Abendländischen
Bewußtsein vorzüglich durch die Kreuzzüge vermittelt
war, welche seine wunderbare Natur, seine eigenthümlichen Sitten,
seine Pracht, seine bunten Völkerschaften, seine großen
geschichtlichen Erinnerungen demselben naher brachten. In den bisher
betrachteten Gedichten zeigt sich weiter keine Erwähnung des
Morgenlandes, als insofern Kleidungen beschrieben werden, welche
aus Orientalischen Stoffen, Zeugen, Steinen, Metallen, Perlen u.
s. f. verfertigt sind, wie denn grüner Achmardi, Zeuge von
Agazouch und Zazamanch, arabisches Gold, Karfunkel von Indien u.
dgl. überall vorkommen. Aber eine Entgegensetzung des Orients
und Occideuts [Okzidents] mußte sich erst in den Kämpfen
der Byzantiner, Westgothen und Franken mit den Arabern, der Deutschen
mit denselben und mit den Maygaren unter den Ottonen geschichtlich
entwickeln, bevor dieselbe auch in die Poesie eintreten konnte.
Mit den Kreuzzügen bildete sie sich ganz allgemein in diesem
Charakter und bestimmte jener Gegensatz gegen das Heidnische sich
überhaupt zu dem gegen die ungläubigen Saracenen [Sarazenen],
welche nun Riesen, Zwerge und Zauberer mit sich führen. Die
kirchliche Tendenz in vielen ,dieser Gedichte ist unverkennbar und
drang oft umbildend in die alte Sage ein. Erst mit dieser engeren
Beziehung auf den Glauben, auf die Wunder des heiligen Morgenlandes
und auf das Weib erwacht in der Deutschen Poesie, die bis dahin
eine strengere, mehr Nordische Phantasie bewahrt, das Romantische
der Bedeutung, wie wir noch jetzt dies Wort zu nehmen gewohnt sind
und machen somit die Gedichte, in welchen diese Gegensätze
sich aufthun, den Uebergang in die mehr von Außen aufgenommene
romantische Poesie, in welcher sie sich dann mehr vereinzelt darstellen,
wie das Politische mehr im Karolingischen, das Abenteuerliche und
Phantastische mehr im Arturischen, das Hierarchische und die sich
daran knüpfende Contemplation mehr in den Gedichten vom Gral
u. s. f. erscheint.
Quelle: Das
Heldenbuch und die Nibelungen, Karl Rosenkranz, Halle 1829,
S. 38ff
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