§. 26. Ansichten und Beurtheilungen.

Wenn sich irgend ein großes Product des Geistes zum Gegenstand allgemeiner Betrachtung erhebt, wie nach einander bei uns die Messiade, Ossian, Faust, Aristophanes Wolken, u. a., so kann es nicht an einer Menge flacherer und tieferer Beurtheilungen fehlen, welche in ihrer scheinbaren Getheiltheit nur die verschiedenen Seiten der Sache, die an sich eine ist, entwickeln. Die Entgegensetzung der Begriffe und Urtheile gehört also nicht ihr, sondern dem mit ihrer Auffassung und Erkenntniß beschäftigten Bewuß[t]sein an. Zusammen oder aufgelös't aus ihrem Gegensatz sind sie der vollständige Begriff des Gegenstandes selbst. Ueber die Nibelungen ist schon unzählig viel geschrieben worden; aber sehr vieles von diesem ist müssige Wiederholung, welche höchstens in die Breite hin die Bekanntmachung des Gedichtes gefördert hat. In diesen Ansichten ist auf das Princip, von dem sie geleitet wurden, zu sehen, nach welchem sie sich von selbst im Allgemeinen in die historische, religiöse und ästhetische theilen.

Das historische Verständniß des Nibelungenliedes lag als das stoffartigste am nächsten. Johannes von Müller (Geschichte schweizerischer Eidgenossenschaft. Th. I. Cap. 7. Amn. 30. S. 90 in der zweiten Ausg.) machte zuerst auf diesen Hintergrund aufmerksam. Sodann verfolgten ihn die Gebrüder Grimm an verschiedenen Orten, die zum Theil früher genannt sind; Görres, die beiden Schlegel und Lachmann haben in Zeitschriften, besonders in den Heidelberger Jahrbüchern der Literatur, viel dafür gethan, den geschichtlichen Leib der Sage' aus bewährten Zeugnissen herauszubilden. Kurz und sehr anschaulich hat K. W. Göttling das hieher Gehörige in seiner kleinen Schrift: über das Geschichtliche im Nibelungenliede, Rudolstadt. 1814. 8. zusammengestellt und namentlich aus dem Jornandes, Prosper, Gregorius Turonensis, Fredegarius und Venantius Fortunatus treffende Züge entnommen, in denen die Geschichte sich unserer Sage verwandt zeigt. Späterhin aber hat er nach einer auch hier schon angedeuteten Hypothese der Uebereinstimmung der Nibelungen mit den Ghibellinen und der Wölfingen oder Amelungen mit den Guelfen in seiner Schrift:
Nibelungen und Ghibellinen. Rudolstadt. 1816. 8. die Sage in einen Kreis hinübergezogen, wo äußere Namenähnlichkeit und die Analogie des Gegensatzes überhaupt ihn geradehin zur Verwechselung der Geschichte und Sage, bei manchen feinsinnigen und richtigen Bemerkungen, geführt haben. - Ferner ist hier mit Auszeichnung zu nennen: v. d. Hagen, zur Geschichte der Nibelungen, aus den Wiener Jahrbüchern abgedruckt. 1820; und I. Leichtlen's Forschungen. Hft. 2. Freiburg. 1821. 8.

Das religiöse Element der Nibelungen oder das Verhältniß ihrer Sage zum Scandinavischen Mythus haben vorzüglich v. d. Hagen und Mone erörtert. I. Mone's Einleitung in das Lied der Nibelungen. Heidelberg. 1818. 8., wornach Sigfrid Valldur, Dietrich Thor, Ezel Othin ist. Die Sagenkönige mit ihren zwölf Helden sind menschliche Othine mit den zwölf Asen in Asgard. . Hagen ist Loki, Volker Bragi, Eckenwart oder Eckhart Heimdallur, der Himmelswächter. Die Nibelungen sind Asen, die Hünen Riesen, die Wölfingen Loki's Wolfgeschlecht u. s. f. v. d. Hagen in seiner Schrift: Die Nibelungen, ihre Bedeutung für die Gegenwart und für immer, Breslau, 1819. 8, und in den Anmerkungen zu der Nibelungen Noth, Frankfurt a. M. 1824. 8, (was ein von Vers zu Vers fortlaufender, allseitiger Commentar des Liedes) stimmt in vielen Stücken mit ihm überein, hat aber die Sagenvergleichung auch in das Griechische, Indische u. s. f. hinübergespielt, wie Mone auch in seiner Einleitung zum Otnit. Das Nichtige dieses Verfahrens ist unzweifelhaft die innere Einheit, in welcher Mythus und Sage eines Volkes zu einander stehen, überhaupt der solcher Forschung zu Grunde liegende Begriff, daß die Geschichten der Sage nicht blos äußerlich als dürre Facta, sondern als einen Gedankeninhalt bergend anzusehen sind. Nur schleicht sich, auch bei dem ursprünglich unbefangenen Sinn, so leicht eine formelle Parallelisirung ähnlicher Beziehungen in gesonderten Gebieten ein, welche die bestimmten Formen der Erscheinung der Idee paralysirend in einander wirrt, aufweiche Bestimmtheit in Bezug auf das zu Grunde liegende Wesen es doch ankommt. Eine solche Widerlegung wie I. A. Wendel: über den Werth und die Bedeutung des Nibelungenliedes. Co-burg. 1821. 8. gegen Mone versucht hat, ist freilich zu oberflächlich, doch immer noch besser, als die moralische Ausdeutung, welche Mone als Gegenstand der Dissertation eines gewissen F. Wachter (Jenae. 1820. 8.) in der Geschichte des Nordischen Heidenthums. Th. II. S. 314. anführt, daß nämlich Sigfrids Hornhaut die Tapferkeit, sein Hort die Freigebigkeit und seine Kappe die Befriedigung aller Wünsche anzeige.

Am längsten blieb eine wirklich aus dem Standpunkt der Kunst unternommene Beurtheilung des Nibelungenliedes zurück. Durchgreifend ist erst, was in dieser Hinsicht v. d. Hagen in der Schrift über die Bedeutung u. f. f. S. 143 - 209 gesagt und hier auch das Typische in den poetischen Figuren treffend gezeichnet hat. Vergl. auch dessen Einleitung in seine Ausgabe p. XIX -XXVI. Was K. E. Schubarth, zur Beurtheilung Goethe's. Breslau. 1820. 8. Th. 2. zweite Ausg. S. 426 - 465., Einseitiges und Schiefes über die Nibelungen gesagt habe, so ist doch sein ästhetisches Urtheil sehr zu billigen und besteht dem Hauptinhalt nach in Folgendem: Das Thema des Ganzen ist, wie Liebe zu Leid führen müsse. Der Dichter besitzt unstreitig die höchsten Erfordernisse, aber die Ausführung in's Kleine ist, eine Schuld seines Zeitalters, noch unbeholfen. Sehr lobenswerth ist am Dichter, daß er Sigfrid den einzigen ganz wunderbar begabten Helden, der in den Überlieferungen wohl gerade am seltsamsten und übernatürlichsten erschien, in den menschlichsten zu verwandeln gewußt hat, so daß das Wunderbare, was in ihm sich findet, nur zur helleren Hervorhebung der reinen menschlichen Anlasse dient. Ihm entgegengestellt ist Brunhild, bei der gleichfalls die ungeheure, riesenhafte Kraft, welche sie zu einem Unweibe macht, nach der Schwächung oder Entzauberung in die dem Weibe eigenthümliche Natur der Kleinlichkeit übergeht. In Chriemhild als Gegenbild zu Sigfrid und Brunhild, entwickelt sich der Begriff von einem Ungeheuren, Unmöglichen aus den schönsten, sanftesten Anfängen nur durch rein menschliche Anregung und erschüttert deshalb am meisten, weil hier das Gräßliche aus einem wahren, trefflichen Boden entspringt. Wie sie gegen Ablauf des Gedichtes immer mehr von ihrem Werthe verliert, so wird ihr Feind Hagen uns fast um so ehrwürdiger, je mehr er seinem unvermeidlichen Schicksal sich nähert. Er hat ein zu seiner physischen Kraft unverhältnißmäßiges Uebermaaß geistiger Kraft, welches ihn unsicher macht und zum Argwohn und Mißtrauen gegen alle, am meisten gegen Sigfrid als den an natürlicher Stärke ihm Ueberlegenen, aufreizt. Daher seine Wahlverwandtschaft mit der geschwächten Brunhild, sein Ausspähen des verwundbaren Punctes an Sigfrids Leibe, daher sein Versenken des Schatzes - weil Gold in der irdischen Welt fast eben so mächtig ist, als Verstand, List und Geist in der Welt der Einsicht -, daher endlich seine Befragung der Donauweiber. Als sich der trotzige und tückische Mann von diesen geistigen ihm verwandten Mächten verlassen sieht, die er als günstig erhofft hatte, zaudert er keinen Augenblick langer, das Unmögliche zu übernehmen und seiner physischen Kraft allein sich anzuvertrauen. Die furchtbare Zertrümmerung des Kahns ist das erste Probestück von dieser Seite. Von nun an ist er ganz umgewandelt und seine physische Anstrengung nähert sich dem Enormen. Denn es ist überhaupt die Absicht, der Zweck des Dichters, die menschliche Natur erst in einer fremden Verkappung, dann ohne dieselbe in ihrem eigensten Lichte, und durch dasselbe höher, edler und reiner, besonders in dem liebenswürdigen Rüdiger und tapfern Dietrich, zu zeigen, weshalb endlich Ezel mit seinem Hofgesinde noch die menschliche Natur in ihrer Entkräftung darstellen muß. So führt zu große Leidenschaft den Menschen eben so wenig an's Ziel, als schlaffe, weichliche Ruhe und feiges Beharren.

Quelle: Das Heldenbuch und die Nibelungen, Karl Rosenkranz, Halle 1829, S. 54ff
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