§. 22. Abfassung.

Das Lied der Nibelungen hat keine andere Entstehung gehabt, als die der übrigen Lieder gewesen. Die Sage desselben oder sein Inhalt lebte nicht nur überhaupt schon im Volk, sondern lebte in ihm auch in einer bestimmten poetischen Form, welche durch sich selbst den Dichter, der die Sage von Neuem dichten wollte, ergreifen mußte. In Ansehung dieser Allgemeinheit der Volkssage und unleugbaren stoffartigen Bedingtheit des einzelnen Dichters durch sie als vorgefundene kann von Neuheit und eigener Schöpfung bei ihm die Rede nicht sein, weil er nicht tiefer sinnen und fühlen konnte, als in den charakteristischen Zügen der Sage seines Volkes Geist sein Gemüth schon dargelegt hatte, weshalb die Sagen jeder Nation einen andern ihnen eigenen Zug haben. Sieht man also darauf, daß die Sage eines Volkes gemeinsames Gut und von ihm in lebendiger Überlieferung mannigfaltig bewegt ist, so erscheint der Volksgeist als der eigentliche Sänger und der bestimmte Dichter, dieser Einzelne, wer er nun sei, nur als das reproducirende Organ desselben, als ein äußerlich mit der Form, mit der Verknüpfung einzelner Theile, Ausmahlung in das Besondere, u. s. w. Beschäftigter. Von dieser Ansicht ist K. Lachmann in seinem Buch: über die ursprüngliche Gestalt des Gedichtes von der Nibelungen Noth. Berlin. 1816. 8. ausgegangen. Er hat die Thätigkeit des künstlerischen Individuums ganz formell genommen und daher die einzelnen Rhapsodien, aus denen das Ganze zusammengefügt sei, nachzuweisen versucht und selbst die verschiedene Darstellung, den sanfteren und rauheren Ton u. dgl. dafür in Anspruch genommen. Es bleibt ihm, wie der Wolfischen Hypothese einer Conglomeration des Homerischen Epos aus einer Vielheit anfänglich zerstreuter Rhapsodien, das große Verdienst, die Frage nach dem einzelnen Verfasser zur gänzlichen Gleichgültigkeit herabgebracht und die Mächtigkeit der Sage im Volk anerkannt zu haben, weshalb ihm auch viele beigetreten sind. - Dieser Ansicht gegenüber war die andere am producirenden Individuum festhaltende die nächste und daher auch älteste. Bodmer rieth auf Manier, Adelung auf Konrad von Würzburg (1297), Johannes von Müller auf Wolfram von Eschenbach, Friedrich von Schlegel auf Heinrich von Ofterdingen, Zeune gar auf Klinsor von Ungerland. Am unglücklichsten war wohl Schubarths Conjectur, einen Geistlichen und Mönch für den letzten Verfasser zu nehmen, weil die Ritterwelt in unserm Gedicht ohne Vorliebe und Schwulst behandelt sei, was doch, nach Schubarths wenig Kenntniß unserer anderen Sagen verrathenden Voraussetzung, in den anderen Liedern immer der Fall wäre. Man merkt aber bald, daß er höchst einseitig nur Lichtensteins Frauendienst im Auge habe, aus welchem er dann noch allerhand entsetzliche Folgerungen zieht. Dieses Streben, einen bestimmten Verfasser des Liedes haben zu wollen, wurde vorzüglich durch die große Verschiedenheit der Handschriften zurückgedrängt, deren Differenz, zumal beim Zustande der Literatur im Mittelalter, bei der als allgemein vorauszusetzenden Theilnahme an diesem Stoff und bei der häufigen Willkühr der Abschreiber, nicht so befremden und unmöglich zu der Annahme bestimmen kann, von gar keinem Dichter wissen zu wollen.

Nur ein ästhetischer Beweis aus der inneren Einheit des Werkes läßt sich jetzt führen, daß das Epos in dem strengen und durchgehauenen Styl, in dem innigen Zusammenhang aller Theile oder besser Glieder und in der einfachen überall gleich sehr sichtbaren Vollendung Einem Dichter zugehöre, dem die Sage allerdings gegeben war, so gut, wie dem Shakespeare in den alten Chroniken und Novellen, dem Ariosto im Bojardo u. a. eine Fülle des Stoffs vorlag, den sie doch erst durch Vereinung mit einer absolut schönen Form zur Würde eines Kunstwerks erhoben, in welchem der Stoff nicht von der Form, die Form nicht vom Stoff zu trennen, sondern beide als eine gediegene Einheit zu nehmen sind. Ohne diese Thätigkeit des Einzelnen kommt die Idee nicht zur freien Wirklichkeit kunstvoller Gestaltung, gerade wie es zwar eine Menge zersplitterter Thierfabeln [Tierfabeln], sogar ganze Gedichte vom Rénard und doch nur einen Reinecke Fuchs als die absolute Thierfabel, als die Concretion aller anderen giebt. Daher darf die Sage als das Allgemeine so wenig, wie der Dichter als das Einzelne, etwa gar in beliebiger Einbildung phantastisch schaffend, für sich festgehalten, sondern muß der Dichter als der durch tiefen Verstand und kräftige Phantasie die Idee des Volkes verwirklichende begriffen werden.

Quelle: Das Heldenbuch und die Nibelungen, Karl Rosenkranz, Halle 1829, S. 48ff
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