Das Wunder der hl. Anna

In der Kirche zu den neun Chören der Engel am Hof befindet sich ein Holzrelief mit der hl. Anna, wie sie die hl. Maria unterrichtet. Davon wird folgende Legende erzählt. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts lebte in dem Haus "Zum Totenkopf" in der Bognergasse ein leichtfertiges Mädchen, das unter der Bezeichnung "die rote Franziska" bekannt war. Trotz ihres Lebenswandels trug sie eine besondere Verehrung zu dem erwähnten Annabild und schmückte den Altar stets mit Blumen aus. Auch ließ sie dort Messen lesen. Eines Tages ließ sich die rote Franziska nicht mehr sehen und niemand wußte, wo sie hingekommen war. An einem stürmischen Winterabend klopfte es bei dem Seelsorger der Kirche am Hof und es erschien ein altes Mütterchen, das den erstaunten Priester um den geistlichen Beistand für die rote Franziska bat, die in Todesnöten läge. Sie bezeichnete ihm das Haus und ging wieder von dannen. Der Seelsorger begab sich hinab in die Kirche zum Annenaltar, dem er das Allerheiligste Gut entnahm. Bei dem flüchtigen Aufblicken zu dem Bilde dünkte es ihm, als ob die hl. Anna aus demselben verschwunden wäre, hielt dies aber für eine Täuschung in der Dunkelheit. Als der Priester in der Bognergasse den Hausbesorger zur Öffnung des Tores herausklingelte, war dieser ganz erstaunt, einen Geistlichen mit der letzten Wegzehrung vor sich zu sehen, und bedeutete ihm, daß in diesem Hause niemand auf den Tod krank läge. Der Priester entgegnete ihm aber, er wäre eben von einer alten Frau zu einem Mädchen mit dem Namen der roten Franziska in diesem Hause gerufen worden. Der Hausbesorger mußte in der Tat zugeben, daß dieses Mädchen hier wohnte, das er schon längere Zeit nicht gesehen hätte und die alle Leute wegen ihres schlechten Rufes mieden. Auch hätte er niemand das Tor aufgemacht, der von ihr gekommen wäre. Der Seelsorger ließ sich jedoch nicht anfechten und stieg zu dem Dachkämmerchen der Franziska empor, die er in der Tat sterbenskrank vorfand, doch war ein Tisch mit einem weißen Tuch überdeckt und auf demselben stand zwischen zwei brennenden Kerzen ein Kruzifix. "Um Gott", sprach die Sterbende, als der Priester an ihr Bett herantrat, "so hat die Fürbitte der Heiligen, an die ich mich in meiner Todesangst gewendet habe, ein Wunder erwirkt!" Als die feierliche Handlung der Sakramentserteilung vorüber war, sprach der Priester: "Nun, meine Tochter, wenn es dich beruhigt, sage mir, wer alles zu meinem Empfange vorbereitet hat und wer das alte Mütterchen gewesen ist, das du mir gesendet." - "Niemand ist bei mir gewesen", antwortete die Sterbende. "Seit mehreren Tagen liege ich schwer krank danieder, aller Hilfe bar, und heute fühlte ich, daß meine letzte Stunde herannaht. Ihr kennt, hochwürdiger Herr, die Verehrung, die ich für die hl. Anna und deren Bild gehegt habe. In der höchsten Todesangst flehte ich zu ihr, mich nicht ohne den süßesten Trost der Kirche scheiden zu lassen. Da war's mir plötzlich halb im Traume, als vernähme ich geschäftig hin und wieder trippelnde Tritte in der Kammer und schließlich dünkte mir, als sähe ich ein altes Mütterchen zur Tür hinausgehen."

"Allmächtiger, wir beugen uns alle vor deinen Wundern!", rief jetzt der Priester, von dem Eindrucke des Gehörten bewältigt. "Wisse, meine Tochter, du hast bei Gott Gnade gefunden, er ließ das Wunder zu, daß das von dir so hochverehrte Bild Leben gewann. Es war also keine Täuschung, als ich, dem Tabernakel das Ziborium entnehmend, die Gestalt der Heiligen nicht im Rahmen erblickte. Sie hat hier alles zu meinem Empfang vorbereitet. Sie war das Mütterchen, das mich zu dir beschied!"

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 66, S. 83f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, April 2005.