Die Spinnerin am Kreuz

a)

In Inzersdorf erzählt man sich, eine reiche Goldspinnerin hätte einst ein so schweres Verbrechen verübt, daß sie in eine peinliche Untersuchung kam und dergestalt zum Tode verurteilt wurde, daß ihr Körper auf das Rad gelegt werden sollte. Durch Spendung großer, zu wohltätigen Zwecken verwendeter Geldsummen soll dieselbe in Freiheit gesetzt worden sein, worauf sie zum immerwährenden Andenken die Kreuzsäule errichten lassen und täglich bei derselben büßend gekniet haben soll.

b) erweitert

Vor undenklich langer Zeit lebte eine schöne, reiche Goldspinnerin, Clara genannt. Diese war in heftiger Liebe zu einem jungen Ritter von Merkenstein entbrannt. Doch der Ritter blieb kalt und gleichgültig gegen ihr Ansinnen; er hatte ja daheim ein junges, liebes Weib, die ihn mit einem Söhnlein erfreute, und die Lockungen der reichen Clara vermochten ihn nicht in seiner Treue wankend zu machen. Von Eifersucht und Wut entbrannt, gelang es ihr endlich, des Ritters Weib und Kind zu überfallen und den Dolch in beider Brust zu stoßen. Bald kehrte jedoch das Bewußtsein der verübten gräßlichen Tat zurück und sie übergab sich selbst dem Gericht. Durch Loskaufung wahrscheinlich erhielt sie aber ihre Freiheit wieder und errichtete eine steinerne Denksäule, an deren Fuße sie im Bußgewande, betend und ihr ganzes Vermögen an Unglückliche austeilend, reumütig ihr Leben beschloß. Nach ihr wurde die Denkäule Spinnerin am Kreuz genannt.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 128, S. 135f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, Mai 2005.