Die Spinnerin am Kreuz
Ritter Adalbert machte einen Kreuzzug nach dem Heiligen Lande, während
seine Braut Adelheid daheim sich in Gram und Sehnsucht verzehrte. Nur
im Gebete und im Besuche eines benachbarten Kirchleins fand die Verlassene
Trost. Da gab ihr frommer Sinn ihr ein, dem Kreuze, für das ihr Verlobter
im Morgenlande stritt, sich ganz zu weihen und an der Denksäule so
lange zu spinnen, bis Adalbert in ihre Arme zurückkehrte. Täglich
trug sie den Rocken hin und spann. Da erschien ihr eines Abends die blutige
Gestalt ihres Geliebten und verkündete ihr, daß sie sich ihr
Totenkleid spinne, denn erst im Himmel würden sie sich wiedersehen.
Schon am folgenden Tage brachte ein Pilger die traurige Kunde, Ritter
Adalbert sei im Heiligen Lande gefallen und habe ihm sterbend Adelheids
Ring übergeben. Da spann sie noch sechs Wochen vor der Denksäule,
teilte dann alle ihre Habe an die Armen aus und starb an gebrochenem Herren,
nachdem von ihrem Gespinst eben ihr Grabkleid fertig geworden war. Alt
und jung beweinte sie, und noch jetzt sieht der nächtliche Wanderer
im Mondscheine die schöne Spinnerin manchmal vor der Denksäule
knieen.
Quelle: Die Sagen und Legenden
der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 126, S.
134f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von
Anja Christina Hautzinger, Mai 2005.