Die Alraunen
Der Vorsteher des Bücherschatzes in der kaiserlichen Bibliothek
zu Wien hatte nach dem gewöhnlichen Betzeichen keine Ruhe mehr und
wurde oft mit Gewalt hinausgetrieben. Absonderlich war dies der Fall mit
demjenigen Zimmer, in welchem unterschiedliche Manuskripte nebst anderen
raren Monumenten aufbewahrt wurden. Da befanden sich auch zwei Alraunen
mit rotem Scharlach gekleidet und gleichsam in ordentlichen Totenladen
nach ihrer Größe liegend. An denselben befanden sich besondere
Zeichen, als wenn sie verschiedenen Geschlechts wären, und hat sich
Kaiser Rudolphus IV. (ll.) ihrer bedienet und gar seltsame Dinge mit ihnen
verübet. Unter anderem erzählte man, daß sie wie kleine
Kinder hätten müssen gebadet werden, und zwar mit unverfälschtem
Wein. Wenn dieses nicht geschehen, haben sie ein Geheul angefangen wie
neugeborene Kinder, die erst vom Mutterleib kamen, auch nicht eher nachgelassen,
bis ihnen ihre ordentliche Pflege widerfahren ist.
Quelle: Die Sagen und Legenden
der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 16, S.
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Für SAGEN.at korrekturgelesen von
Anja Christina Hautzinger, April 2005.