Das salomonische Urteil

In Mödling hatte einst ein ganz junges und zudem noch unverheiratetes Mädchen ein Kind geboren. Als man es darüber ausfragte, wie es denn um alles in der Welt nur dazu gekommen sei, behauptete das Mädchen einfach, es habe das Kind vom Klapperstorch erhalten, was natürlich keine Menschenseele ernst nehmen konnte. Weiter ins Gebet genommen, beteuerte es trotzdem wieder und wieder, daß es sich so und nicht anders zugetragen habe. Und weil das Mädchen hartnäckig bei seiner Aussage blieb, gab es schließlich viel Gespött, Schimpf und Schande. Jetzt aber verklagte die so Geschmähte alle diejenigen bei Gericht, die ihr nicht glauben wollten und sie einer frechen Lüge bezichtigen.

Der Ortsrichter freilich galt als ein jederzeit zu Spaßen aufgelegter Mann, und dementsprechend fiel auch sein Urteil in diesem merkwürdigen Rechtsstreit aus. Er entschied nämlich völlig überraschend, daß man den Angaben des Mädchens durchaus Glauben zu schenken habe: Da alle zu Gericht geladenen Zeugen, die von dem Mädchen namhaft gemacht worden waren, die Vettern, Basen und Tanten, die Nachbarsleute, ja sogar der eigene Vater und die Mutter zugestehen mußten, daß sie stets gesagt hatten, die neugeborenen Kinder bringe der Storch, sei somit diese törichte Storchengeschichte durch Zeugenschaft eindeutig belegt, habe folglich als gerichtlich erwiesen zu gelten und könne daher gar nicht unwahr sein.

Quelle: Pilcz, Karlheinz, Sagen, Märchen, Schwänke und Geschichten aus Mödling und Umgebung, Mödling 1983, Bd. 1, Nr. 2