Ein Haar um 100 Pfund Sterling

Ein reicher Engländer, der von der ungarischen Ausstellung (1896) kam und sich einige Tage in Wien aufhielt, trat hier in einen Friseursalon in dem Augenblicke, als ein junges Mädchen dem Friseur ihr blondes Haar zum Verkaufe anbot. Das Mädchen verlangte 20 Gulden dafür. Der Friseur wollte aber nur acht Gulden geben. Endlich bot er ihr 10 Gulden an, womit sie einverstanden war. Schon hatte der Friseur die Schere ergriffen, um das Haar abzuschneiden - in diesem Augenblick rief ihm der Engländer "Halt!" zu und fragte das Mädchen, warum sie ihr schönes Haar verkaufen wolle. Sie erzählte ihm, ihr Vater sei früher ein reicher Fabrikant gewesen und durch ein Unglück um all sein Vermögen gekommen. Ihre Mutter liege krank darnieder. Um nun die Eltern vor dem Hungertod zu schützen, wolle sie ihren Haarschmuck verkaufen. Diese Worte rührten das Herz des reichen Engländers. Er sprach in gebrochenem Deutsch: "Liebes Kind! Verkaufen Sie mir Ihr Haar. Ich zahle Ihnen weit mehr." Gleichzeitig nahm er aus seiner Brieftasche eine Banknote, lautend auf 100 Pfund Sterling (etwa 2400 Kronen) und überreichte sie dem Mädchen mit den Worten: "Das Geld übergeben Sie Ihrem Vater, der wird sich schon zu helfen wissen." Dann ergriff er die Schere und sprach: "Ich schneide mir nur zum Andenken ein einziges Haar von Ihnen ab." Er schnitt hierauf ein Haar ab, legte es in seine Brieftasche und verließ augenblicklich den Friseurladen, Mädchen und Friseur sprachlos zurücklassend. Der Vater des Mädchens fing nun in einer Wiener Vorstadt ein Gemischtwarengeschäft an; die Tage der großen Not waren vorüber.

Quelle: Spirago, Franz, Beispiel-Sammlung für das christliche Volk, Prag 1918, Nr. 890