DIE SCHUSTERMICHELGLOCKE

Der Name Mariahilf für einen Teil des heutigen sechsten Bezirkes findet seinen Ursprung in einer kleinen Holzkapelle, die von den Barnabiten errichtet wurde. In ihr befand sich ein Gnadenbild der Jungfrau Maria, das von vielen Gläubigen verehrt wurde. Nach der Zerstörung der Kapelle durch die Türken wurde von Fürst Paul Esterhazy 1689 die noch heute dort stehende Mariahilfer Wallfahrtskirche erbaut.

Nahe der Kirche betrieb der Schuster Michel neben seiner Schuhmacherei noch ein Wirtshaus. Er galt als fleißiger, aber geldgieriger Mensch.

Eines Nachts, als er gerade seine Tageseinnahmen zählte, klopfte es an die schon versperrte Wirtshauspforte. Ein Fremder stand vor der Tür und begehrte Einlaß in die Pfarrkirche. "Ich muß noch heute vor dem Marienbild beten! Ich gebe Euch einen Beutel voller Goldstücke, wenn Ihr mir helft."

Als der Schustermichel das Wort Gold hörte, lief er sofort zum Mesner und weckte ihn aus tiefem Schlaf auf. Er erzählte ihm von dem Wunsch des Fremden und von der in Aussicht gestellten Belohnung, die den Mesner sofort handeln ließ. Er zog sich schnell an und eilte zur Kirche. Dort öffnete er das Seitentor und ließ den Fremden eintreten.

Nach einiger Zeit, in der er ungestört zur Jungfrau Maria gebetet hatte, kam der Herr aus der Kirche und gab dem Mesner seine Belohnung. Den Schustermichel aber bat er um ein Zimmer für die Nacht. Michel gab ihm seine beste Kammer im ersten Stock der Gastwirtschaft und erhielt nun auch seinen Beutel voll Gold.

Am nächsten Morgen kam der Gast in die Wirtsstube und rief den Michel zu sich. "Ich gebe Euch hier eine Kassette, die Ihr für mich aufbewahren sollt. Ihr dürft sie erst nach Jahresfrist öffnen, wenn ich nicht zurückgekehrt bin. In der Kassette befindet sich ein Brief, in dem geschrieben steht, was mit dem Inhalt zu geschehen hat. Ihr müßt mir Euer Ehrenwort geben, daß Ihr meine Anweisungen genau befolgen werdet, denn unser beider Wohlergehen hängt davon ab!" Der Schustermichel versprach alles genau zu befolgen, versteckte das Kästchen in einer Truhe in seiner Schlafkammer, und so reiste der Fremde beruhigt ab.

Die Tage vergingen und Michel kam immer wieder in Versuchung die Kassette zu öffnen, aber er erinnerte sich an sein Ehrenwort und beherrschte sich. Als das Jahr vergangen war und der Herr nicht mehr erschienen war, sprengte er den Deckel mit Gewalt auf. Das Kästchen war randvoll mit Gold und Edelsteinen gefüllt. Ganz unten am Boden der Kassette fand er den angekündigten Brief. In ihm stand, daß der ganze Schatz dem Mariahilfer Pfarrer zu übergeben sei, denn durch ihn solle die Kirche prachtvoll ausgestattet werden.

Geldgierig wie der Schustermichel war, widerstrebte es ihm die Anweisung zu befolgen. Er dachte: "Der Fremde ist sicher schon gestorben, sonst hätte er die Kassette abgeholt! Ich bin also der Einzige, der von der Existenz des Schatzes weiß. Ich werde ihn für mich behalten!"

In den folgenden Nächten plagten ihn schwere Träume. Am Tage glaubte er, daß alle Menschen ihm seine ruchlose Tat ansehen würden. Er wurde immer verwirrter und bei den Gottesdiensten in der Kirche war es besonders schlimm, denn, immer wenn er an Gott dachte, erschien ihm die Kassette vor seinem geistigen Auge und ein beklemmender Schmerz faßte nach seinem Herzen. Es ging dem Michel immer schlechter und er konnte sich nicht mehr um seine Schusterwerkstatt und das Wirtshaus kümmern.

In einer besonders stürmischen Nacht schickte er nach dem Pfarrer, denn er spürte, daß seine letzte Stunde gekommen war. Der Pfarrer spendete ihm die Sakramente und Michel erleichterte sein Gewissen durch die Beichte. Die ganze Wahrheit erzählte er dem Pfarrer von Mariahilf und gab ihm den Schlüssel für die Truhe, in der er die Kassette und sein ganzes Geld aufbewahrte. Der Schatz sollte für die Ausgestaltung der Kirche verwendet werden, und sein eigenes Geld für den Guß einer neuen Glocke. Nachdem der Schustermichel seine irdischen Angelegenheiten geregelt hatte, entschlief er ganz ruhig.

Die Wallfahrtskirche Mariahilf wurde prachtvoll ausgestattet und die neue Glocke wurde mit einer Festmesse eingeweiht. Nur der Klang der Glocke, die im Volksmund "Schustermichel" genannt wurde, war melancholisch und düster.

Quelle: Wien in seinen Sagen, Eva Bauer, Weitra 2002, S. 181