DER LIEBE AUGUSTIN IN DER PESTGRUBE

Im Laufe des 17. Jahrhunderts und noch weit in der Hälfte des folgenden war das Bierhaus "Zum Roten Dachel" auf dem alten Fleischmarkt eine der besuchtesten Schenken von Wien. Im Gegensatz zur Eleganz der heutigen Bierhallen bestand dieses Schanklokal nur aus einem ziemlich großen, aber niedrigen, rauch- und schmutzgefärbten Zimmer mit kleinen, vergitterten Fenstern, welche von innen, bei der Dicke der Mauern, eine Art von Aufbewahrungsort für Hüte, Mützen, dann Bierkrüge und Gläser bildeten. Eine dieser Fensterbrüstungen bildete das Arbeitskabinett der wohlbeleibten Wirtin; auf einem Tischchen stand ein Arbeitskorb mit allerlei Näh- und Strickzeug; an Lektüre fehlte es auch nicht, ein dickes Gebetbuch lag neben dem Korb und an der Wand hing im roten Einband der neue Warschauer Kalender.

Griechengasse Wien © Harald Hartmann

Griechengasse
© Harald Hartmann, Oktober 2005

Rings an den Wänden waren oben hölzerne, rauchige Gesimse angebracht, an welchen graue, mit Zinndeckeln versehene Krüge und ebenfalls bedeckte Halbe- und Seitelstutzen hingen. Den unteren Teil der Wand umgaben hölzerne Bänke von Ungewisser dunkler Farbe, mit an der Wand befestigten Rückenlehnen, vor ihnen standen vier stämmige lange Tische. Starke hölzerne Stühle mit halbrunden Rückenlehnen, in deren Mitte ein herzförmiger Ausschnitt war, standen davor. Vor einem halbrunden Tisch waren zur Auszeichnung für etwaige Honoratioren vier mit braunem Leder überzogene, bereits tüchtig abgenützte Polstersessel. In einer Ecke, neben dem Eingang zur rauchigen Küche, war die sogenannte "Schank" angebracht, ein käfigartiger Verschlag, dessen dicke Holzpfeiler fast bis an die Decke reichten. Den Hintergrund nahmen größere und kleinere Geschirre ein, die zur Herbeibringung und zum richtigen Ausmessen des edlen Gerstensaftes bestimmt waren und die man mit den Namen Pirschen und Zimente bezeichnete.

Griechenbeisl ehemals Zum roten Dachl, Wien © Harald Hartmann

"Griechenbeisl", das älteste Wirtshaus (Gaststätte) Wiens hieß ehemals "Zum roten Dachl"
© Harald Hartmann, Oktober 2005

In diesem Heiligtum, das kein ungeweihter Fuß betreten durfte, trieben Wirt und Kellner ihre geheimnisvollen Geschäfte; ersterer das Einschenken und Ankerben an einem eigens dazu bestimmten länglichen Holze, Robisch (Kerbholz) genannt, letzterer das Holen und Herumreichen der erquickenden Labung.

Der Eigentümer der Schenke "Zum Roten Dachl" war um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts der Bierleitgeb (Wirt) Herr Ulrich Konrad Puffan. Zur Zeit der großen Pest in Wien, im Sommer des Jahres 1679, hatte sich der damals sehr beliebte und weit berühmte Sackpfeifer und Bänkelsänger Augustin eben dieses Bierhaus zur Stätte seiner Darbietungen erkoren und lockte alle Montage, Donnerstage und Sonntage viele ehrsame Bürger, ja auch Honoratioren dahin, die sich an seinen ziemlich derben Possen ergötzten und sich dabei an Gersten- oder Weißbier, Wecken, glatten Semmeln, Cervelat- und den schon damals beliebten Wiener Wursteln gütlich taten.

Griechenbeisl ehemals Zum roten Dachl, Wien © Harald Hartmann

"Griechenbeisl", das älteste Wirtshaus (Gaststätte) Wiens hieß ehemals "Zum roten Dachl"
© Harald Hartmann, Oktober 2005

Selbst zur Zeit, als die Pest am heftigsten wütete und die meisten Wein- und Bierhäuser gänzlich gesperrt wurden, teils aus Furcht von der Ansteckung ohnehin leerstanden, versammelte sich doch beim "Roten Dachel" insgeheim eine Gesellschaft von Waghälsen, um bei dem betäubenden Gerstensaft und den erheiternden Klängen von Augustins Sackpfeife des allgemeinen Elends zu vergessen.

Dieser selbst aber war der Unerschrockenste von allen; er liebte Gesellschaft und Beifall, noch mehr aber die ihm dadurch zuströmenden Sammelpfennige, am meisten aber Bier und Branntwein, die ihm von dem Wirt häufig und umso bereitwilliger gespendet wurden, als es ja Augustin allein war, der ihm in dieser traurigen Zeit noch Gäste anlockte.

Eines Abends jedoch wollte durchaus niemand erscheinen; darüber wurde der sonst so unerschütterliche Augustin unwillig und suchte seinen Unmut durch eine bedeutende Menge braunen Biers zu dämpfen. Schließlich setzte er noch einen Halbseitelstutzen Branntwein darauf und verließ endlich wankend den Schauplatz seiner Triumphe, der ihn heute so unbefriedigt gelassen.

Seiner sonst so außerordentlichen Lokalkenntnis für diesmal entbehrend, stolperte er über den Stephansplatz, Stock-im-Eisen, Graben, Kohlmarkt zum Burgtor hinaus, doch sein Weg hätte ihn auf die Landstraße führen sollen, wo er in der Hahngasse ein bescheidenes Kämmerchen bewohnte. Die freie Luft hatte seinen Zustand nicht eben gebessert; außer der Stadt gab es auch keine Beleuchtung; daher schwankte und stolperte er fast bewußtlos fort.

Plötzlich verlor sein ausschreitender rechter Fuß den Grund und er fiel eine beträchtliche Höhe hinab, ohne daß er jedoch hart aufstieß. Von einem widerlichen Geruch gequält, schwanden ihm bald die Sinne, er fühlte kaum mehr, daß ihm nach kurzer Zeit mehrere menschliche Körper nachstürzten und fiel bald in tiefen Schlaf.

Als er jedoch zur Zeit der Morgendämmerung mißgestimmt erwachte, wurde er mit Schrecken gewahr, daß eine noch nicht verschüttete Pestgrube, voll schauerlicher Leichen, seine unheimliche Schlafstätte gewesen war.

Er schrie nun nach Leibeskräften und wurde endlich von den Pestknechten, die bald darauf kamen, herausgezogen. Dieses fürchterliche Abenteuer machte jedoch keinen weiteren Eindruck auf den nervenstarken Augustin; er setzte seine gewohnte unstete Lebensweise fort. Auch brachte er sein schaudervolles Abenteuer in zierliche Reime, die er noch oft unter schallendem Beifall auf der Bierbank beim "Roten Dachel" sang. Am 17. Februar 1702 starb Augustin in einem Alter von 72 Jahren. Im Bierhaus "Zum Roten Dachel" aber war der alte Augustin mit seinen lustigen Liedern noch lange im Munde aller Gäste.

Griechengasse Wien © Harald Hartmann

Griechengasse, Verkehrstafel:
"Fussgeher Auchtung auf das Fuhrwerk!
SCHRITTFAHREN!
Schwerfuhrwerkskutscher haben die Pferde am Zügel
zu führen oder eine erwachsene Begleitperson zur
Warnung der Fussgänger voranzuschicken.
Kundmachung vom 8. Mai 1912"
© Harald Hartmann, Oktober 2005


Quelle: Holczabek / Winter, Sagen und Geschichten der Stadt Wien. 3. Auflage, Wien 1894