MUTTER UND KIND
Es ist einmal eine Mutter gewesen und die hat ein Büble gehabt, und das ist ihr lieb gewesen wie sonst nichts auf der Welt, und das Büble wäre seiner Mutter auch durch ein Feuer gesprungen. Aber die Mutter erkrankt und stirbt, und da ist dem Büble gewesen, als begehrte es nicht mehr zu leben, und den ganzen Tag hat es geweint. Und auch die Nacht noch, da es hat wollen schlafen, ist ihm die Mutter in den Sinn und das Wasser in die Augen gekommen. Wie es aber gegen Mitternacht geht und das Büble noch allweil wach und traurig in seinem Bettlein liegt, geht einermal die Tür vom Schlafkämmerlein höfele auf, und wie das Büble erschrocken schauen will, wer komme, steht seine gestorbene Mutter als Geist vor ihm, in einem schneeweißen Kleid, nur am Armel sei ein schwarzes Tüpflein gewesen. Freundlich sagt sie zum Kind: "Gelt, Hannesle, du kennst mich noch?" "Ja, freilich kenn ich dich noch." "So gang", sagt die Mutter wieder, "und wisch dir die Augen aus und bete für mich andächtig einen Rosenkranz, daß mir da mein Tüpflein am rechten Armel vergeht, darnach bin ich ohne Makel und komm in den Himmel. Jetzt muß ich noch geisten, weil ich, ich weiß nicht wie, einmal ein Mäßle Gerste geliehen und nicht mehr zurückgegeben habe. Merk es, fremd Gut tut kein Gut." So sagt sie und verschwindet drauf. Das Hannesle springt genot aus dem Bett und betet kniend einen Rosenkranz, und wie es mit dem letzten Stücklein fertig gewesen ist, so erscheint ihm die Mutter noch einmal, aber ohne Tüpfle am rechten Armel, über und über weiß wie Schnee; und lieblich wie ein Engel deutet sie gegen Himmel und sagt: "Hannesle, jetzt komm ich hinauf", und verschwindet, und dem Hannesle wird wohl ums Herz und es entschläft ruhig.
Quelle: Die Sagen Vorarlbergs. Mit Beiträgen
aus Liechtenstein, Franz Josef Vonbun, Nr. 91, Seite 97