Das Nachtvolk als Totenvolk

An einem schönen Wintertag ging eine junge Frau nach Röthis. Als es Abend wurde, wollte sie wieder nach Hause gehen. Der Abend war schön und mondhell. Als sie am letzten Haus in Röthis vorbeikam, begegnete ihr ein altes, unheimliches Weibchen, das plötzlich vor ihr stand. Die junge Frau grüßte sie freundlich mit „Guten Abend", aber das Weibchen gab keine Antwort und war im Augenblick wieder verschwunden. Als die Frau ihres Weges weiterging und noch an das Weibchen dachte, hörte sie plötzlich vor sich eine schöne Musik. Im Glauben, daß es die Götzner Musik sei, ging sie schneller, um sie einzuholen. Es war ein großer Musikzug, der schöne Melodien spielte. Sie freute sich sehr, daß sie nicht mehr allein war und immer im Takt gehen konnte. Aber immer, wenn sie glaubte die Musik eingeholt zu haben, war diese wieder ein großes Stück voraus. Sie nahm den Weg

durch die Totengasse in Weiler. Als die Frau bei den ersten Häusern anlangte, war sie ganz erstaunt, daß bei einer so schönen Musik niemand zum Fenster herausschaue. Die junge Frau dachte bei sich, daß die Frauen wohl in der Küche und die Männer im Stalle beschäftigt seien und deshalb niemand Zeit habe herauszusehen. Da kamen sie zu einem großen Kreuz, unter dem ungefähr siebzig an der Pest Gestorbene begraben lagen. Als die junge Frau im Taktschritt der Musik folgte, erstarrte sie plötzlich vor Schreck, als sie sah, wie die Musik in die Höhe und dann auf den Friedhof schwebte. In ihrer Angst merkte sie gar nicht mehr, wie sie nach Hause kam.
Röthis

Quelle: Vom alten Glauben, Sagen aus dem Kreis Dornbirn, Walter Weinzierl u. Theo Bildstein, Dornbirn 1944, S. 20f