Eine seltsame Heilige

An der Südwand der St.-Martins-Kapelle in der Bregenzer Oberstadt befindet sich unter den Fresken der unteren Reihe eine seltsame Abbildung. Schon auf den ersten Blick scheint der Betrachter nicht vor einer der gewohnten Kreuzigungsszenen zu stehen, denn die gekrönte Christusfigur ist entgegen den vertrauten Darstellungen dieser Art mit einem weiten Gewand bekleidet, das an eine Ordenstracht erinnert. Dazu passt auch der zingulumartige Strick um die Hüfte des Gekreuzigten. Die Qualen des Kreuzestodes scheinen dem Erlöser nichts auszumachen, obwohl sein ganzes Körpergewicht nur an den beiden Händen hängt, da die Füße nicht am Kreuz angenagelt sind. Seltsamerweise trägt nur einer von ihnen einen ritterlichen Schnabelschuh, während der andere unbekleidet ist und das Wundmal des Nagels erkennen lässt. Ein Kelch unter diesem Fuß mag das Blut des Gekreuzigten aufgefangen haben. Mit weit geöffneten Augen schaut die bärtige Christusfigur auf einen vor ihm knienden Spielmann, dessen Rechte einen Bogen über eine Fidel zu führen scheint, die allerdings nur noch erahnt werden kann. Genau an dieser Stelle nämlich fehlt ein beträchtliches Stück des Freskos.

Zur zeitlichen Einordnung der Darstellung gibt allein schon die ritterliche Fußbekleidung einen deutlichen Hinweis. Kenntnis vom so genannten Schnabelschuh hat Europa nämlich frühestens im späten 11. Jahrhundert durch die Kreuzfahrer erhalten. So richtig beliebt und weit verbreitet wird er vor allem um die Mitte des 14. Jahrhunderts. In diese Zeit ordnet auch die Fachliteratur die Fresken der Kapelle ein. Und sie hat für das Geschehen an der Kapellenwand auch eine entsprechende Bezeichnung; es handle sich um eine Darstellung der hl. Kümmernis. Offensichtlich eine weibliche Heilige also!

In einem Buch der Heiligen und Namenspatrone der neuesten Zeit, das dem Leser über zweitausend Biografien anbieten kann, findet sich keine Trägerin dieses Namens. Ein etwas älteres Heiligenlexikon klärt auf und meint, im Falle der Kümmernis zeige sich, „daß sich leicht auch die sonderbarsten Mißverständnisse in das Walten der Volksphantasie einschleichen konnten“. Es handle sich bei dieser „Heiligen“ nämlich um eine sinnbildliche Gestalt, deren Legende sich erst im ausgehenden Mittelalter gebildet habe. Tatsächlich findet sich im wohl bekanntesten Legendenwerk, der „Legenda aurea“ des Jacobus de Voragine aus dem 13. Jahrhundert, keine Heilige dieses Namens.

Die nächste Überraschung stellt sich ein, wenn es um den Namen der Gesuchten geht, denn außer Kümmernis gibt es für sie noch eine stattliche Reihe anderer Namen: Comeria, Cumernissa, Kumini, Wilgefortis, Liberata, Eutropia, Combre, Regenfledis, Ontkommer, Hülpe usw. Nach der Legende - die älteste stammt aus den Niederlanden - soll sie die Tochter eines heidnischen Königs von Portugal gewesen sein. Da sie keinem irdischen Mann angehören und einer Verheiratung entgehen will, erbittet sie sich vom Himmel einen Bart, der sie entstellen soll. Voller Zorn habe sie ihr eigener Vater deswegen dem Kreuzestod ausgeliefert.

Nach heutiger Auffassung beruht die seltsam anmutende Gestalt dieser „Heiligen“ auf einer Missdeutung alter Christusbilder, die den gekreuzigten Heiland als Himmelsfürsten in königlichem Gewand der romanischen Kunstepoche und beschuht zeigen. Besonders das Erlöserbild des „Volto Santo“ im Dom von Lucca (Toskana), ein fast viereinhalb Meter hohes Kreuz mit einem in ein langes Kleid gehüllten Christus, ist der Hintergrund für viele umgedeutete und missverstandene Nachbildungen.

Das geheimnisvolle „heilige Antlitz“ des Gekreuzigten soll nach der Legende vom heiligen Nikodemus - das ist nach dem Johannes-Evangelium jener Pharisäer, der gemeinsam mit Josef aus Arimathäa den Leichnam Jesu bestattet hatte - aus dem Holz einer riesigen Libanon-Zeder geschnitzt worden sein, und ein kunstfertiger Engel soll ihm dabei geholfen haben. Zur Zeit des Verlustes der heiligen Stätten in Palästina an den Islam - andere sprechen von den Westgoten oder von Karl dem Großen als den Überbringern - schwamm das Kreuz auf einem Geisterschiff quer durchs Mittelmeer bis an die toskanische Küste unweit von Lucca, wo bereits wilde Stiere warteten, um es in die Stadt zu bringen.

Möglicherweise haben aber auch noch ältere Berichte von bärtigen weiblichen Wesen zur Ausbildung der Kümmernis-Legende beigetragen. Da gibt es beispielsweise die hl. Galla, eine römische Witwe des 6. Jahrhunderts, die zumindest auf ihren Abbildungen gelegentlich mit einem Bart zu sehen ist, mit dem sich die Witwe vor zudringlichen Verehrern geschützt haben soll.

Die Frage, ob diese Kümmernis nun eine Heilige war oder nicht, scheint das gläubige Volk noch bis in neuere Zeit kaum beschäftigt zu haben. Wallfahrtsmäßige Verehrung fand ihr Bild beispielsweise jenseits des Arlbergs in Telfs oder in Axams bei Innsbruck.

Was es mit dem Geigerlein zu Füßen der bärtigen Jungfrau auf sich hat, ist eine Geschichte, die sich - allerdings nur in den deutschsprachigen Ländern - schon sehr früh um das missverstandene Christusbild gerankt haben muss. Sie erzählt von einem armen Spielmann, der vom Kreuz herunter mit einem goldenen Schuh beschenkt wird. Als er diesen zu Geld machen will, wird er prompt als Dieb angeklagt und soll gehängt werden. Als letzte Gunst erbittet er sich, noch einmal vor dem Bild spielen zu dürfen. Die Bitte wird gewährt. Kaum setzt er seinen Bogen an, da fällt auch noch der zweite Schuh herab. So etwas spricht sich natürlich herum, und so wird die bärtige Jungfrau bald in allen Herzens-, Leibes- und Seelennöten angerufen. Besonders Frauen wenden sich in ihren Anliegen an sie, in Bayern führt sie deswegen sogar den Namen „Weiber-Leonhard“. Aber auch bei Gefahren, welche die Allgemeinheit bedrohen, wird zur „Heiligen Hilfe“ gebetet. Trockenheit und Überschwemmung, drohende Missernte, Teuerung, alle Übel kann sie fernhalten oder zumindest verkleinern helfen.

Kümmernis-Kreuz, Liebfrauenkirche Rankweil © Berit Mrugalska
Kümmernis-Kreuz, Liebfrauenkirche Rankweil, Holz
Es handelt sich um einen Viernageltypus, mit interessantem Lendentuch
Über den Rippenbogen sind Brüste angedeutet, die Finger sind besonders feingliedrig , die Lippen rot
sie trägt weiteres einen Voll- und Oberlippenbart , ihre Haare fallen nicht in typische "Christuslocken" auf ihre
Schultern, sie hat große Ohren und trägt ein große, verzierte Krone
am rechten Kreuzesarm befindet sich eine Inschrift "Kümmernis"
© Berit Mrugalska, 16. Oktober 2005

Bei uns im Land muss in diesem Zusammenhang natürlich noch das „Kumernus-Kreuz“ von Rankweil erwähnt werden. Es war um die Mitte des 18. Jahrhunderts, als im Beinhaus der dortigen St.-Michaels-Kirche ein altes Kruzifix entdeckt wurde. Bei dem wertvollen Fund, der bald darauf in die Liebfrauenkirche kam, handelt es sich um ein gut einen Meter hohes ehrwürdiges Kruzifix, ein „Fronbogen-kreuz“. Es hätte also eigentlich über dem Eingang zum Altarraum, am so genannten Triumphbogen, angebracht werden müssen, doch der Gekreuzigte musste sich mit einem Platz links neben der Gnadenkapelle begnügen, wo das „Kumernus-Kreuz“ auch heute hängt. Nach der Meinung der Fachleute gehört es zu den bedeutendsten Werken der romanischen Holzbildnerei und darf der Mitte des 12. Jahrhunderts zugerechnet werden.

Ansicht der Votivtafelwand © Berit Mrugalska
Ansicht der Votivtafelwand, rechts das Kümmernis-Kreuz
© Berit Mrugalska, 16. Oktober 2005

Warum es in die Nähe der Legende von der bärtigen Jungfrau geraten ist, hat vor allem mit der Inschrift auf dem Querbalken des Kreuzes zu tun. Dort steht nämlich deutlich „Sanctus Kumernus“ zu lesen. Ähnlich wie beim „Volto Santo“ von Lucca war es auch hier in Rankweil in alter Zeit üblich gewesen, den Gekreuzigten mit einem prunkvollen Stoffgewand zu bekleiden. Im Übrigen weist die bärtige Christusfigur — von den bis auf die Brust herabreichenden Haaren einmal abgesehen — absolut nichts auf, was an eine weibliche Person denken ließe.

Auch auf die Legende vom Übers-Wasser-Schwimmen eines Kreuzes und von dessen Transport durch Wiederkäuer stoßen wir auf dem Liebfrauenberg, doch sie ist ganz offensichtlich zum wesentlich berühmteren „Silbernen Kreuz“ gewandert. Von diesem wurde nämlich erzählt, es sei von einem Ochsengespann auf den Liebfrauenberg gezogen worden. So ist es auch auf einem Siegel des alten Gerichtes Rankweil-Sulz von 1800 deutlich zu erkennen. Gefunden wurde das wertvolle Kreuz ebenfalls im Wasser. Aus dem Mittelmeer bei Lucca ist die Frödisch bei Muntlix geworden.

Kehren wir noch einmal in die Bregenzer St.-Martins-Kapelle zurück.

Auch wenn, wie bereits eingangs erwähnt wurde, die Geige oder Fidel des Spielmanns auf dem Fresko heute nicht mehr zu sehen ist, um 1400 in Bregenz scheint ein derartiges Instrument bekannt gewesen zu sein. Und noch eine Vermutung darf angestellt werden: Jene nämlich, der bekannte Minnesänger Graf Hugo von Montfort habe in Lucca das Volto-Santo-Kruzifix gesehen. Seine kriegerischen Unternehmungen haben ihn nämlich gelegentlich auch nach Oberitalien gebracht. Dass er bei einer solchen Gelegenheit den Dom der toskanischen Stadt – der übrigens auch dem hl. Martin geweiht ist – besucht hat, ist anzunehmen.

Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte der Minnesänger in der Steiermark, und dort, in Brück an der Mur, liegt er auch begraben. Auf seinem Epitaph heißt es „Anno domini milesi-mo quadringentesimo vicesimo tertio...“

Im Kleinwalsertal hätte man damals vielleicht schon „1423“ geschrieben; mehr davon im nächsten Kapitel.

Quelle: Mit freundlicher und exklusiver Genehmigung von Franz Elsensohn, Hexenplätze, Kinderbrunnen, Seltsames und Sagenhaftes aus Vorarlberg, Bd. 2, Hohenems 2002, S. 79 - 86