Der Stübageist
In einer Mondnacht ist ein Nenzinger einmal mit seinen zwei Rössern taleinwärts in den Nenzinger Himmel gegangen. Er hat seinen Rössern gut zugeredet. „Jetzt sind wir schon ein schönes Stück. Und jetzt noch den letzten Stich, dann sind wir oben auf der Stüba.“ Auf einmal bleibt er stehen. Doch er hat sich wohl getäuscht, wer wird denn auch zu dieser Stunde von der Höhe herab juchzen! Es ist mäuschenstill und tappt ruhig dahin. Aber da hört er plötzlich wieder Juchzen. Die Rösser halten an und zittern leicht. Auch dem Nenzinger ist nicht ganz geheuer, und er zieht einen Schnetzer aus dem Sack. Der gejuchzt hat, kommt immer näher und näher, ein unheimlicher Schatten, nicht Mensch, nicht Tier. Aber dann erkennt er doch: es ist ein Mensch, der ein schweres Rind auf seinen Schultern trägt. Der schreitet auf den Nenzinger zu, so, als fegte er ihn vom Weg, dann bleibt er jäh stehen und wirft das tote Rind vor seine Beine und juchzt schrill in die Nacht. „Was willst du?“ fragt der Nenzinger, man kann sich denken, wie er gefragt hat. Der Geist aber sagt: „Furcht dich nicht, und steck deinen Schnetzer ein. Ich bin nicht mehr aus Fleisch und Blut, und der Schnetzer könnt' mir nichts tun.“ Der Nenzinger steckt sein Messer ein, und der Geist erzählt weiter: „Ich hab' früher einmal -wie ist das schon lang her! - hier oben die Rinder gehütet. Und da hab' ich etwas Unrechtes getan, ich hab' das schönste Häuptlein von der Hab' über den Felsen gestoßen, so daß es elend zugrund' gegangen ist. Ich hab's nicht gebeichtet und auch den Schaden nicht gutgemacht. Und wie ich gestorben bin, hat mich Gottvater verurteilt: So viele Haare das Tier gehabt hat, so oft muß ich es hinabstürzen ins Tobel und wieder herauftragen. Und wenn es ein Härlein weniger hat, laß ich jedesmal einen Juchzer!“ „So“, sagte der Nenzinger, und er spürte den kalten Schweiß über den Rücken rinnen. Der Geist aber fuhr fort: „Du kannst mich erlösen. Ich bitt' dich kniefällig! Bezahl dem Bauer das Rind, aber noch bevor es in Nenzing Ave Maria geläutet hat. Erzähl davon meinen Eigenen, sie werden mir gern helfen und dir das Geld zurückgeben. Aber es wird Zeit!“ „Ja, es wird Zeit“, hat der Nenzinger gesagt, und seine Rösser rascher angetrieben. Im Nu sind sie auf der Stüba gewesen. Dort hat der Bauer eilig abgesattelt und, ohne ein Wort zu reden, den Weg ins Tal genommen. Der Stübageist hat ihn bis nach Nenzing hinaus begleitet, ein unheimlicher Geselle, und hat dann wollen, ohne Behütgott zu sagen, verschwinden. Der Nenzinger aber hat ihm den Stock zum Gruß gereicht, und dann war die Hand des ändern mit allen fünf Fingern der Rechten im Stock eingebrannt, ganz deutlich. Der Nenzinger aber ist gleich zum Bauern gegangen, der um das Rind gekommen ist, und hat die blanken Gulden hingezählt, so viele, als das Rind wert gewesen ist. Wie er die Tür hinter sich zugemacht hat und in die Nacht hinausgekommen ist, hat vom Turm die Glocke geläutet, und der Geist ist erlöst gewesen. Seither hat man ihn nie mehr, nicht ein einziges Mal, gesehen.
Quelle: Unser Ländle, 4. Jg., Heft 5, (1954), zit. nach Sagen aus Vorarlberg, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 62f