Der Jolerbühl

Vor langer Zeit kam ein unbekannter alter Bettler in das Haus eines wohlhabenden Bauern, das gerade an jener Stelle stand, wo sich jetzt der Hügel erhebt. Schöne ebene Wiesen und Äcker umgaben das Haus und boten dem Bauern alljährlich reichen Ernteertrag. Mit demütiger Bitte flehte der arme Alte den reichen Besitzer um eine kleine Gabe an. Doch der wies ihn mit rauhen Worten ab und schaffte ihm, schleunig den Hof zu verlassen, sonst werde er die Hunde auf ihn hetzen.

Wortlos schritt der Bettler davon, aber nach wenigen Schritten drehte er sich noch einmal um und sagte mit drohender Stimme: „Du hast wohl zu wenig; warte nur, ich werde dir etwas bringen!“ Der Bauer kümmerte sich um die Drohung des Alten nicht weiter und ging seinem gewöhnlichen Tagwerk nach. Aber es dauerte nicht lange, da stiegen schwarze Wetterwolken am bisher wolkenlosen Himmel auf, ein fürchterliches Tosen und Rauschen erscholl aus dem nahen Gebirge her, und ehe man sich recht versah, stürzte eine Wasserflut aus der oberhalb des Hauses gelegenen Schlucht, ein Berg von Steinen und Geröll überschwemmte die Wiesen und Felder, und ein Gewirr von Ästen und Baumstämmen lagerte sich drüber hin.

Mitten in den tosenden Fluten schritt der alte Bettler, einen ungeheuren Drachen an einem roten Seil neben sich führend. Gerade vor dem Haus blieb der Mann stehen; der Drache aber begann mit seinem Schweif wütend das Geröll und Gewirr zu peitschen, daß gewaltige Felsblöcke und mächtige Baumstämme gegen das Haus geschleudert wurden und sich darüber emportürmten, bis nichts mehr davon zu sehen war. Alles Lebendige, das sich im Haus befunden hatte, Leute und Vieh, gingen zugrund, und ein langgestreckter Hügel formte sich allmählich, wie er jetzt noch zu sehen ist.

Quelle: Anonym Sagen aus Österreich, Wien 1948, S. 272f (gekürzt), zit. nach Sagen aus Vorarlberg, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 39f