411. Die weiße Jungfrau

Vor alten Zeiten führte die Hauptstraße von Dalaas über die Radona bei der Martinskapelle in das kleine Dörflein Wald und noch früher gelangte man auf einem Säumerwege dahin, was heute noch deutlich zu erkennen ist. Ungefähr siebzig Meter von der Kapelle dem Radonatobel zu gelangt man in den Säumerweg, jetzt Kogagäßle genannt. Das Gäßle biegt nach etwa fünfzehn Metern winkelrecht nach abwärts der alten Straße zu.

In diesem Bug soll man zuzeiten nachts eine Jungfrau traurig auf einem Steine sitzen sehen, neben ihr einen kleinen hölzernen Trog, gefüllt mit Gold- und Silbergeld. Auf diesem Troge hocke ein großer schwarzer Hund, gefesselt an eine dicke Kette. Wer den Schatz gewinnen will, braucht drei Haselrütlein, deren jedes nur einen Jahrwuchs haben darf. Mit jedem der drei Rütlein muß er dem Hund, der einem nichts tun könne, auf den Kopf schlagen, dann sei die Jungfrau erlöst und der Schatz sein. Auf den ersten Streich werde der Hund furchtbar knurrend den Rachen weit aufsperren. Auf den zweiten Streich schwellen die Augen des Hundes zu einer feurigen Kegelkugel an und er knurrt noch ärger und rasselt mit der Kette. Nach dem Streiche der dritten Rute fallen die Ketten, der Hund verschwindet und die Jungfrau steht schneeweiß da, dankt für die Erlösung, übergibt den Trog samt Inhalt und verschwindet alsbald.

Nun soll schon einer den Versuch gemacht haben, aber nach dem ersten Streiche sei er vor lauter Furcht und Schrecken davongelaufen. Die Jungfrau aber sei, bitterlich weinend und jammernd, daß sie sich jetzt 100 Jahre lang nicht mehr sehen lassen dürfe, durch das Kogagäßle hinab der verbrannten Buche zu gelaufen und dort verschwunden.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 411, S. 231f