355. Tausend Hölzlein
Blick Marul © Berit Mrugalska
Blick Marul, Großwalsertal
© Berit Mrugalska, 17. Oktober 2005

Bis zum Jahre 1585 gehörte die Gemeinde Raggal mit der Fraktion Marul seelsorgerlich nach Ludesch. Die christlichen Bewohner mußten also an Sonn- und Feiertagen nach St. Martin in Ludesch, ein bis zwei Stunden weit zur Kirche. Wie eine Sage zu erzählen weiß, befand sich im innersten Marul, zwei Stunden von der St. Martinskirche entfernt, ein überaus frommes Weiblein, das bei guter Jahreszeit alle Tage den weiten Weg machte nach St. Martin, um dort die hl. Messe anzuhören. Dazu brauchte es jedesmal den ganzen Tag. Am Morgen früh ging es von heim fort und am Abend spät kam es nach Hause und so ging es lange Jahre. Als es zum Sterben kam, wurde der Seelsorger von Ludesch, dessen treues Beichtkind das Weiblein immer war, gerufen und versah die Kranke mit allen Tröstungen der heiligen Religion. Danach sagte sie zum Pfarrer mit sichtlicher Freude: „Herr Pfarrer! Dort noach a d'r Chammerdecke domma ischt a Gstell ond of dem steid as Schussele, ond dis ischt volla chline Hölzle; allemoal, wennd i ge Ludesch zer Meß bi, han i as ganz chlis Hölzle ihe dua, ond doa müassen meh as dausig der si; ei, nens ober ond luagat!" Der Pfarrer nimmt das Schüsselchen herab und sieht darin zu seiner und des Weibleins Verwunderung nur zwei einzige Hölzlein. Das höchsterstaunte Weiblein fragte den Pfarrer, wie denn doch das komme? Der erklärte: „Mir kommt vor, von allen Euren Meßgängen hat der Herrgott nur zwei angerechnet, die ändern werdet Ihr auf dem Hin- und Herwege durch unnützes und vielleicht auch boshaftes Geplapper völlig entwertet haben. Da wäre es besser gewesen, Ihr wäret wie andere Weiber an Werktagen daheim geblieben und hättet die häusliche Pflicht getreu erfüllt."

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 355, S. 203f