370. Die Raben auf dem Herd

In Fontanelle war in einem Hause jahrein, jahraus Streit und Zank, und der Unfriede nahm so Überhand, daß oft die Nachbarn herbeiliefen und abtätigen wollten. Doch sie mußten einsehen, daß bei so entsetzlichem Haß und Hader ihr Friedenstiften vergeblich war, und sie hielten bald nur noch Ausschau, ob ihre wüsten Nachbarn alle am Leben seien. Einst hallte es wieder gar schauerlich von Flüchen und Stößen und Schlägen. Auf einmal wurde es still. Eine Schwester, die noch die beste aus jener Heimat war, kam bleich zur Nachbarin gelaufen, daß sie schnell zu ihnen solle. In wütendem Zorne hatten die Geschwister in der Stube alles kurz und klein geschlagen, sie hieben aufeinander ein und der Bruder warf die Schwester zur Stubentür hinaus, daß sie hart vor dem Herde auf den Steinboden stürzte und ohne Hilfe nicht mehr aufzustehen vermochte? War es noch weit bis zum Totschlag? Aber da erschauten die Geschwister grause Rabenvögel auf dem Herde, die mit großen schwarzen Flügeln schlugen und die Schnäbel aufsperrten wie zum Fräße. Voll Furcht und Schreck waren sie darauf zurück in die Stube gerannt, hatten die Tür verriegelt und der Schwester gerufen, daß sie Hilfe hole gegen die unheimlichen Tiere, die bei verschlossenen Fenstern und Türen in die Küche gefunden hatten. Die Nachbarin erschauderte. Doch der Einen zulieb faßte sie einen Totenvogel um den andern und trug ihn vors Haus. Und die sonderbaren Raben wehrten sich nicht und flogen nicht weg, wenn sie sie ergriff. — Von nun an aber mieden die Geschwister den Streit.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 370, S. 211f