393. Die wilden Leute auf der Oden Alp
Am Mittelberg hat ehedem ein Zwergvölklein gehaust. Als aber die Walser ins Tal kamen, wichen die kleinen Leute in die Schlüfte und Schrunden des Gebirges und auf steile einsame Höhen. Am Heuberg wohnten sie noch lange, bei schönem Wetter sah man sie dort oft ihre Wäsche trocknen. In der Öde, dem runden, von herabgestürzten Felsblöcken übersäten Talkessel zwischen den grauen Iferfluhen und den rauhen Hängen der Schwarzwasseralp, hatten sie ein ganzes Dörflein, braune niedrige Hütten aus Baumrinde und Moosschollen.
Manchmal kamen sie dem Lauf des Schwarzwasserbaches nach heraus, doch nie weiter als bis zum Kesselschwand oder Schröflesegg, selten zu den Gletschermühlen. Von Gestalt waren es kleine winzige Leute und die Weiblein gar schön mit langem hellen Haar. Kinder, die neben ihnen herliefen, banden sie an ihren Ärmlein fest und eilten so die steilsten Berghalden hinauf. Man hieß sie nur die wilden Leute. Alles Geheimnis von Kraut und Wurzelwerk war ihnen kund und die Gemsen waren ihre Herden. Oft hörte man an Sommerabenden ein helles Pfeifen von Wand zu Wand. Vom Heuberg tönte es hinüber zum Fellhorn und wieder zurück zum Kürenwald und weiter zur Rauhe und zum Öntschelspitz. Es waren die wilden Männlein, die den Gemsen zum Melken riefen; stundenweit hörte man den feinen hohen Klang. Gegen die Menschen aber waren die kleinen Leute gar scheu und flohen, wenn nur einer aus dem Tale nahte.
Einmal aber kam ein Männle mit gar jämmerlichen Gebärden bis zu den Häusern von Mittelberg und ließ mit Bitten nicht nach, bis ihm eine Bäuerin folgte. Eilig führte es sie durchs Gestäud und Gestrüpp steil hinauf an den Heuberg, wo in einer Rindenhütte sein Weiblein in Kindsnöten lag. Sie mußte ihm helfen und blieb drei Tage zur Pflege. Zu essen brachte ihr das wilde Männlein Gränten und rotbeerige Dolden vom Turgetsch und kleine süße Käslaibe, die es aus Gamsmilch gewonnen. Als sie dann wieder ging, füllte es ihr die Schürze mit glänzenden Silbersteinen, so daß sie auf ihr Lebtag reich genug war. — Daher geht die Sage, bei den Eifersgunten sei ein Silberbergwerk gewesen, das die wilden Leute gekannt hätten.
Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 393, S. 222f