295. Notnagel

Bei einem Gang übers Joch kam ein Mann in die Nacht, so daß er in der öden Hütte der Seewiser Alpe ein Lager suchen mußte. Er lag noch nicht lang in der Pritsche, da ging die Tür auf und eine Frauensperson trat herein. Die ging zum Ruhenden hin und fragte: „Was machst du da?" Der Mann entgegnete: „Ich wurde von der Nacht überfallen und will hier übernachten." Darauf sagte sie: „Wenn es so ist, kannst du hier bleiben, du mußt aber still sein, es wird sich da bald eine große Gesellschaft zur Unterhaltung einfinden." Kaum hatte sie das gesagt, kam ihm vor, als sei die Hütte in einen stattlichen Saal verwandelt und als läge er hinter dem Ofen. Die Frau begann dann den Raum auszukehren und aufzuräumen. Bald danach trat ein Paar nach dem ändern herein. Die Angekommenen verlangten Auskunft über den Fremdling hinter dem Ofen und die Frauensperson erklärte ihnen, daß er ein Notnagel sei und daß sie deswegen ihm erlaubt habe, hinter dem Ofen zu bleiben. Damit gaben sie sich zufrieden. Nun ging es bald recht lebhaft zu, es wurde getanzt, gegessen und getrunken. Vor Tagesanbruch entfernte sich wieder ein Paar nach dem ändern und zuletzt die Frauensperson, die zuerst gekommen war. Der Wanderer aber lag wieder in der dunklen, öden Hütte, bis es Tag wurde und er seinen Weg fortsetzen konnte.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 295, S. 170