Der Gang zum Kalkofen

Dem Weidenhofbauer hatte der unerbittliche Tod seine geliebte Lebensgefährtin und seinem einzigen Kinde das treubesorgte Mutterl geraubt. Nach Jahresfrist sah sich der Bauer zum zweitenmal nach einer Hausfrau um, und bald schaltete und waltete wieder eine schmucke Bäurin auf dem Weidenhofe. Mit Liebe nahm sie sich auch ihres Stiefkindes, des Loisele, an, und als sie selbst ein Söhnlein bekam, hätte niemand sagen können, daß sie ihr eigenes Kind dem andern vorziehe. So vergingen mehrere Jahre in ungestörtem Glück.

Da ereignete es sich, daß der alte Kalkbrenner starb und sein Sohn, der gerade vom Militär frei wurde, die Hantierung übernahm. Als die Weidenhoferin den jungen, kecken und dabei bildhübschen Burschen sah, entbrannte ihr Herz in heißer Liebe zu ihm. Sie fing an, ihren Mann zu vernachlässigen, wurde auch gegen ihren Stiefsohn hart und lieblos, obwohl er ein sehr braves und frommes Kind war. Ja, es kam so weit, daß sie ihre Leidenschaft nicht mehr beherrschen konnte und den jungen Kalkbrenner aufsuchte, sooft ihr Mann auswärts zu tun hatte. Der Bauer wurde endlich argwöhnisch und fragte sein Söhnchen, den Loisl, wo die Mutter während seiner Abwesenheit gewesen sei. „Zum Kalkbrenner hinaus ist sie“, sagte das Büblein, „und ich und der Jörgele haben derweil miteinander gehäuselt.“ Der Bauer stellte nun sein ungetreues Weib zur Rede; sie aber leugnete alles rundweg ab, und es gelang ihr auch, ihren Mann wieder zu beruhigen.

Bei nächster Gelegenheit klagte sie ihrem Liebsten, daß der kleine Loisl sie beim Vater verscherge und sie daher nicht mehr zu ihm hinauskommen könne, solange der Bub im Haus sei: „Du mußt mir helfen, ihn auf die Seite zu bringen.“ Der Bursche erschrak, willigte aber schließlich doch ein, da er vermeinte, ohne die Besuche der schönen Burga nicht mehr weiterleben zu können.

„Schick den Loisl morgen zu mir! Dann wirf ich ihn in die Kalkgrube“, sagte er. Anderntags, als der Bauer auf dem Felde arbeitete, schickte das verblendete Weib wirklich ihren Stiefsohn mit einem Auftrag hinaus zum Kalkbrenner. Bei der Muttergotteskapelle, wo der Knabe oft zu beten pflegte, kniete er auch heute vor dem Marienbilde nieder und betete aus kindlich frommem Herzen zur Himmelskönigin. Dann pflückte er noch beide Händchen voll der schönsten Feldblumen und legte sie der Muttergottes zu Füßen. Inzwischen wollte der kleine Jörgele seinem Bruder nach und kam früher als dieser zum Kalkbrenner. — Als der Loisl hinkam, traf er den Mann nicht mehr dort und machte sich unverrichteter Sache wieder auf den Heimweg. Wie die Bäurin ihren Stiefsohn daherkommen sah, sank sie vor Schreck wie leblos nieder; es hatte der Kalkbrenner, welcher die beiden Knaben nicht voneinander kannte, ihren eigenen Sohn in die Kalkgrube geworfen.

 

Quelle: Adolf Dörler, Märchen und Schwänke aus Nordtirol und Vorarlberg, in: Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde 16 (1906), S. 278f, zit. nach Sagen aus Vorarlberg, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 74