Das Brautwerberätsel

Ein mit Glücksgütern reich gesegnetes Ehepaar hatte ein allerliebstes Töchterlein. Die Eltern erzogen ihr Kind mit der größten Sorgfalt, und dieses suchte sich stets für ihre Liebe dankbar zu bezeigen. Als die Tochter aber zur Jungfrau herangewachsen war, verlor sie ganz ihr sonst so heiteres Wesen. Die Eltern hatten diese Gemütsänderung ihrer Tochter mit Besorgnis wahrgenommen und fragten sie endlich, was ihr denn fehle, daß sie so still geworden und gar nicht mehr lachen und scherzen möge. „Ach“, antwortete das Mädchen, „täglich sehe ich, wie glücklich meine Eltern miteinander leben, und nun sehne ich mich auch so sehr nach einem geliebten Lebensgefährten.“ Die Eltern waren darob sehr bestürzt, denn sie hätten ihr einziges Kind gerne für sich allein gehabt. Damit aber doch der Wunsch der Tochter erfüllt werde und sie einen passenden Gatten bekomme, ersann der Vater ein Rätsel. Er schrieb folgende Buchstaben an sein Haus:

IBDVMVS (Ich bin das verlassene Mädchen von Sachsen,)
NFEGHBIG (Nur für einen gelehrten Herrn bin ich gewachsen.)
DDDGMRB (Dem, der das Gedicht mir richtig bringt,)
VIDEMTZEN. (Versichere ich, daß er meine Tochter zur Ehe nimmt.)

Bald war es bekannt, daß derjenige das Mädchen zur Frau bekomme, der die Buchstaben am Hause richtig zu deuten wisse. Gar viele zerbrachen sich die Köpfe darüber. Am meisten aber mühte sich ein Offizier damit ab, das Rätsel zu lösen, denn er hatte schon lange ein Auge auf die reiche Erbin geworfen. Es war ihm aber rein unmöglich, die Buchstaben richtig zu deuten. Nun dachte er sich, daß er auf diese Weise zum Ziele gelangen könnte. Er ließ seine Kompanie vor dem Hause seiner Auserwählten Kriegsübungen machen und trug den Soldaten auf, sie sollen sich die Buchstaben an jenem Hause genau ansehen, und wenn sie einer zu deuten wisse, solle er sich sogleich bei ihm melden.

Unter den Soldaten befand sich auch ein schöner und gelehrter Jüngling, der aber wegen seiner Armut seine Studien nicht vollenden konnte. Als dieser die Buchstaben sah, hatte er sogleich ihre Bedeutung heraus, sagte aber dem Offizier kein Wörtlein davon. Zu Hause schrieb der Soldat die Lösung des Rätsels auf ein Blatt Papier und gab dem Vater des Mädchens gleichfalls eine Nuß zu knacken auf, indem er die Buchstaben hinzusetzte:

IBDAK (Ich bin der arme Knabe)
UHNFUB (Und hab nur Fleisch und Bein;)
IGDMG (Ich glaub, daß mein Gefühl)
FETWPS. (Für eure Tochter wird passend sein.)

Dann schrieb er an das Fräulein einen Brief, und zwar in Ziffern: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13.

(Einzig Geliebte meines Herzens! Zweifle nicht an meiner Treue, führe mich nicht herum wie das fünfte Rad am Wagen, sieh mich nicht für einen Siebenschläfer an. Ach, mein Lieb, sage niemals nein! Um zehn Uhr habe ich den Brief geschrieben, um elf Uhr habe ich ihn auf die Post getragen. Ich bin der zwölfte Mann bei der 13. Kompanie.)

Die Eltern gaben mit Freude die Einwilligung zur Hochzeit; denn sie konnten sich keinen lieberen Schwiegersohn denken, und die beiden wurden ein glückliches Paar.

Quelle: Adolf Dörler, Märchen und Schwanke aus Nordtirol und Vorarlberg, in: Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde 16 (1906), S. 279f, Nr. 2, zit. nach Sagen aus Vorarlberg, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 242f