Das Nörgele auf der Tann
        
        Vor Zeiten erschien bald da, bald dort ein Männlein, 
        Niemand wußte woher.
        
        Es hatte ein graues G'wandl an, und wenn es gut aufg'legt war, strich 
        es sich den langen grauen Bart. Im Sommer soll es sich auf der Alm aufgehalten 
        haben, und zur Herbstzeit kam's herunter zu den Höfen. Immer kehrte 
        es auf dem Ritten ein und in Sarnthal bei Leuten, die waren, wie sie sein 
        sollten. So ein Bauer lebte lange vor uns in Sarnthal, der hatte seine 
        Mühle oben im Berg. Wie der Bach einmal gieng und das Rad trieb, 
        führte er das Korn hinauf, mahlte und mahlte, bis er das letzte Körnlein 
        auf der Mühle hatte.
        
        Einmal nun war ein Jahr, wo der Herrgott ausnehmend viel wachsen ließ, 
        und als es zum Mahlen kam, wußte der Bauer nicht, wie er allein 
        mit dem Allen fertig werden sollte. Viel hatte er noch nicht gemahlen, 
        da verspürte er eines Abends auf der Mühle das Nörgele.
        
        Etwas Recht's hat er nicht gesehen, so ein graues Häufchen walgte 
        auf der Stiege herum, wo man das Korn hinaufträgt. Weil's ohnehin 
        schon der Nacht zugieng, stellte er schnell den Bach ab, sperrte die Mühle 
        zu und begab sich heimwärts. In aller Früh kam er wieder daher, 
        um zu mahlen. Siehe da, was er sich vorgenommen hatte, war alles fertig 
        gemahlen. So gieng's die zweite Nacht, die dritte und so fort. Er richtete 
        von da an einfach das Korn her, und wenn er am anderen Tag kam, hatte 
        er alles bis auf's letzte "Grandl" gemahlen.
        
        Nun ging dem Bauer ein Licht auf: der nächtliche Mühlknecht 
        war niemand anders als das kleine Nörgele.
        
        Nach und nach wurde das Nörgele ganz heimisch und der Bauer gedachte 
        es zu g'wanden, als die kalte Jahreszeit sich meldete, um dem kleinen 
        Ding eine Freud zu machen. Er schenkte ihm ein neues Lodeng'wandl. Wie 
        er es ihm hinreichte, da wurde das Nörgele auf einmal traurig und 
        am anderen Tag war's bei Laub und Staub verschwunden. Seitdem ist das 
        Nörgele aus dem Sarnthal fort, aber ganz aus der Landschaft ist es 
        doch nicht gezogen. Man sagt, es stieg übers Joch und zeigte sich 
        von der Zeit an öfters auf dem Ritten.
        
        Das letzte Mal hat man es dort gesehen auf der Tann, alte Leute denken's 
        noch.
        
        Auf der Tann, so heißt ein Heuhof auf der Alm ober Lengstein, wo 
        die Kircher im Sommer das Vieh auftreiben. Da oben trieb das kleine Ding 
        nun seinen Spuk. Oft trieb es bei helllichtem Tag das Vieh von der Weide 
        daher und trieb es heimwärts, ein anderes Mal fuhr es mit dem Vieh 
        zum Stall hinaus, dann rumorte es wieder in der Nacht unter dem Vieh herum, 
        bis daß Jemand dazukam. Einmal mähten die Kircher oberhalb 
        der Hütte und streckten sich dann nach dem Mahd auf den Wasen hin 
        zum Nachtmahlen. Sie erzählten vom Nörgele und da fieng einer 
        zu g'scheidteln an: "Es hat nichts mit dem Nörgele, es hat nie eines 
        gegeben." Auf das hin hat's dann auf dem Stein drei, vier Klafter drober 
        gelärmt. Wie sie hinaufschauten, wars fort bei Putz und Stingel. 
        (Lengstein.)
        
        
        Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben 
        von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 93, Seite 59.