Der Kreuzschnabel

Ein Vogelnarr, wie es keinen zweiten mehr gegeben hat, das war der "Dieteler", ein alte Bergknppe von Schwaz. Ein besonderer Liebhaber aber war er von den Kreuzschnäbeln, denn er wußte ja, wie diese Vögelein einst, obwohl vergeblich, sich abgemüht hatte, mit ihrem Schnabel die Nägel aus dem Kreuze des sterbenden Gottmenschen herauszuziehen, und daß der Heiland zur Erinnerung an ihr mitleidiges und erbarmungsvolles Bemühen ihnen seitdem das Horn ihres Schnabels über's Kreuz habe wachsen lassen. Darum hatte er von dieser Gattung immer zwei Stücke im engen , kleinen, aus Eisendraht geflochtenen Käfige. Doch war es ihm leid, daß es nur Linksschnäbel waren, d. h. solche, bei denen sich das obere Schnabelhorn über das untere auf der linken Seite krümmte; einen Rechtsschnabel hätte er so sehnlich gewünscht, denn von einem Hause, wo ein solcher sich befindet, muß alles Unheil weichen und ferne bleiben.

In seiner Nachbarschaft war nun eine Betrübte, d. i. vom Teufel Besessene. Diese kam oft zum Dieteler auf Besuch; er aber hatte daran, wie sich leicht denken läßt, nicht gar sonderliche Freude. Er hat sie immer lieber bei der Ferse als bei den Zehen gesehen und konnte nimmermehr den Wunsch unterdrücken, daß diese unheimliche Person doch für immer ausbleiben möchte.

Einmal machte er nun einen Fang, der ihm um theures Geld nicht feil gewesen wäre! Ein Rechstschnabel hieng an seiner Leimruthe. Wie vorsichtig er ihn abnahm! Wie froh er nach Hause eilte! Und mitten zwischen den zwei Linksschnäbeln wies er ihm den Ehrenplatz in seiner Gefangenschaft an.

Bald darauf kam nun die Betrübte wieder zum Besuche. Ihr erster Blick ward auf den Fensterbalken gerichtet, wo die Kreuzschnäbel hiengen. "Schau mal den Dieteler an," sagte sie dann, "hat er itzt gar drei Kreuzschnäbel - und einen Rechtsschnabel auch noch dazu," setzte sie schnippisch bei. "Ja freilich," sagte der schlaue Dieteler ganz ruhig und gelassen, war aber schon fest überzeugt, daß der Rechtsschnabel seine Wirkung machen würde; und wie gedacht so geschehen. Von dort an kam die Betrübte nimmermehr in Dieteler's Haus. (Bei Schwaz. P. H. Högl.)


Quelle: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 296, Seite 178.