Die Kälberzähne
In Kitzbühl lebte einmal ein Ehepaar, dem guckte Noth und Elend durch jede Spalte in das armselige Häuslein. Da gieng das Weib eines Sonntags in den Wald hinauf, um dort in der stillen Kapelle des Einsiedlers unserm Herrgott all' sein Anliegen zu klagen. Auf dem Rückweg sah es in dem ausgetrockneten Bett eines oft wilden Bergbaches ein Häuflein schneeweißer Kälberzähne. Es schob eine Hand voll in den Sack, um dm Kindern etwas zum Tändeln zu bringen. Diese rannten ihm sonst ja immer, wenn es heimkam, entgegen, ergriffen es bei der Hand oder am Kleid und fragten:
"Mutter! hast uns gar nichts mitgebracht?"
Aber diesmal befanden sich die Kleinen gerade bei einem Nachbar; deßhalb
vergaß das Weib, die das Sonntagsgewand auszog und in den Kasten
hieng, ganz und gar auf die Zähne. Als es die Kleider am nächsten
Feiertage wieder anlegte, hörte es im Sacke klingeln. Es griff verwundert
hinein und zog eine Handvoll funkelneue Zwanziger heraus. Die Zähne
hatten sich alle in blankes Geld verwandelt. Nun machte sich das Weib
flugs auf den Weg, um die Zähne, welche es zurückgelassen, zu
holen; aber leider nicht ein einziger mehr war an der Stelle zu finden.
(Beilage zur Donau 1855 Nr. 392.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 595, Seite 336.