Der Glockenhof

Vor mehr als zweihundert Jahren gieng in der Nähe dieses Hofes die sogenannte Hochstraße vorüber. Zu selber Zeit lebte auf dem Hofe ein berühmter Stück- und Glockengießer. Wie nun aus großen Künstlern öfters große Lumpen werden, so geschah es auch, hier. Dieser anfangs ehrliche Mann beherbergte manchmal allerlei Gesindel, darunter auch Mörder und Räuber, vermeinend, es seien durchreisende Wandersleute. Diese aber brachten allzeit Speise und Trank in Überfluß mit und erlustigten sich mit Karten und Würfeln bis tief in die Nacht. Der Meister sah der Kurzweil dieser Leute öfters mit Verwunderung zu und äußerte sich eines Abends, daß ihm seine ganze Kunst und harte Arbeit nicht ein so gutes Leben verschaffen könnten. Da sagten sie ihm, wenn er nur mit ihnen halten wollte, würde er es eben so gut bekommen, und luden ihn dazu ein. Der Glockengießer nahm es an, fieng an mit den Gaunern zu zechen und mit ihnen gemeine Sache zu machen. Bald wurde er ein verwegener Räuber und sein Haus eine Mörderhöhle, was später die im Keller und Stalle aufgefundenen Gerippe von Ermordeten hinreichend dargethan haben. Es verschwanden auf der Hochstraße Wanderer oft spurlos, doch niemand hegte auch nur den leisesten Verdacht gegen den angesehenen und berühmten Meister. Da aber endlich das Maß seiner Sünden voll war, arbeiteten einige Näherinnen auf dem Glockenhofe. Wie nun diese einmal spät abends noch arbeiteten, nahmen sie mit Entsetzen wahr, daß der Glockengießer nebst seinen Kameraden mit blutbefleckten Händen und Kleidern nach Hause kam. Die Näherinnen begaben sich bald zur Ruhe, hörten aber auf ihrer Kammer ganz deutlich, wie die Räuber Geld zählten und unter sich vertheilten. Da sagte einer zu den andern:

"Diesen hätten wir doch nicht umbringen sollen, weil er nur so wenig Geld gehabt hat,"

worauf ihm ein anderer gleich erwiderte:

"Warum nicht gar! Es sticht wohl öfters ein Metzger ein Kalb ab und hat keinen Groschen dabei."

Die Näherinnen wußten nun genug und machten alsbald bei der Obrigkeit die Anzeige. Der Glockengießer wurde gefänglich eingezogen, verhört und auf das freie Geständniß [Geständnis] seiner Verbrechen hin verurtheilt [veruteilt], vor seiner Behausung mit dem Schwerte hingerichtet zu werden. Er fand das Urtheil gerecht und bat sich nur zwei Gnaden aus. Die erste lautete dahin, daß man ihm erlauben möchte, von dem in seinem Hause vorhandenen Metalle eine Glocke für die Pfarrkirche zu unserer lieben Frau in Mils zu gießen. Nach erhaltener Erlaubniß [Erlaubnis] legte er gleich Hand an's Werk und vollendete die Glocke in kurzer Frist. Als sie aufgezogen war und frei da hieng, nahm der Verurtheilte einen großen Hammer und führte etliche starke Schläge auf die Glocke. Da sie einen hellen, schönen Ton von sich gab, rief der Glockengießer voll Freude aus:

"Gott und Maria sei gelobt und gepriesen! die Glocke ist nach Wunsch ausgefallen, und ich hoffe durch sie ein christliches Ende und einen guten Tod zu erlangen."

Nach vollendeter Arbeit bat er inständig, daß die Glocke ehestens geweiht, nach Mils gebracht und dort aufgezogen werde, was auch getreulich vollzogen wurde. Die zweite erbetene Gnade lautete folgender Maßen: Weil die zum Tode verurtheilten Missethäter gewöhnlich an einem Freitage nach Neunuhr gerichtet zu werden Pflegen, so möchte man an eben jenem Freitage, an welchem das Urtheil an ihm sollte vollzogen werden, die Glocke um Neunuhr zum ersten Mal läuten, auf daß er, während selbe zum Andenken an das Hinscheiden des göttlichen Erlösers geläutet wird, sein Gebet um eine glückliche Sterbstunde verrichten könnte. Auch diese Bitte wurde ihm gewährt. Als der Freitag erschienen war, an dem der Glockengießer sollte gerichtet werden, wurde er vor Neunuhr vor seine Behausung geführt, wo er am gemeinen Wege, Mils gegenüber, enthauptet werden sollte. Schlag Neunuhr ertönte die neue Glocke vom Milser Thurme herüber mit so lieblichem Klange, daß alle Anwesenden, besonders aber der Verurtheilte, absonderlichen Trost empfunden haben. Er empfieng nach verrichtetem Gebete ganz getrost und voll Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit den tödtlichen Streich. Die Glocke war lange Zeit eine Zierde des Milser Thurmes, bis sie im großen Brande vom 23. August 1791, der die Kirche zerstörte, zu Grunde gieng.

Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 1007, Seite 577ff.