Die weisse Frau im Zemmgrund

Ganz geheuer ist es im Zemmgrund nie gewesen. Drunten in der Schlucht, durch die sich der Wildbach seinen Weg talaus bahnt, sah man in der Nacht oft eine wunderschöne, in weiße Schleier gehüllte Frau, die versuchte, nächtliche Wanderer ins Wasser zu drängen.

Einmal befand sich ein junger Bursch auf dem Heimweg nach Seperlehen, einem der letzten Bauernhöfe. Es war eine kalte Dezembernacht. Als er in den Wald hinter dem Lindtal kam, war plötzlich die weiße Frau an seiner Seite. Sanft legte sie ihm ihre Hand auf die Schulter und ging schweigend neben ihm her. Dabei versuchte sie, den Burschen vom Weg gegen die Schlucht hin abzulenken. Er aber hielt wacker dagegen, bis die Erscheinung einsah, gegen ihn nichts auszurichten. Da blieb sie zurück, und der Bursch kam unbeschadet nach Hause.

Ein andermal waren zwei fidele Burschen unterwegs nach Ginzling, wo sie zu einem Hochzeitsfest geladen waren. Der eine hatte seine Fidel bei sich, der andere eine Zither. Plötzlich bemerkten sie in der Dunkelheit vor sich eine weiße Frauengestalt, die ihnen zuwinkte. Da begann einer der beiden zu laufen und hetzte hinter der Flüchtenden her. Zu gern wollte er wissen, wer das Wesen sei. Es war ihm aber nicht möglich, die Gestalt einzuholen. Ihre Füße schienen zu schweben, und auf einmal war sie in der Sausteinmühle verschwunden.

Der Bursch aber gab nicht auf, drang in die Mühle ein und tappte im Dunkeln mit beiden Armen herum. Zu fassen bekam er freilich nichts. Bald aber sprang er entsetzt wieder heraus und rief seinem Kameraden, der inzwischen herangekommen war, zu: "Zurück, zurück, sie hat einen hohlen Rücken!" Womit er sagen wollte, dass die weiße Frau kein Wesen mit einem menschlichen Leib sei. Da war es mit der Neugierde der beiden endgültig vorbei. Ohne sich noch einmal umzudrehen, sprangen sie dem nahen Dorf zu.

Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 126f.