Die "Wilden Fräulein"
"Wilde Fräulein" oder "Talgilgen", wie die Saligen im Zillertal genannt werden, gab es früher an vielen Orten. Sie waren den Menschen wohlgesinnt, wohl auch deshalb, weil sie unter ihnen vor dem "Wilden Mann" sicher waren, der sie mit tödlichem Hass verfolgte. Auch ein Baumstrunk mit drei eingekerbten Kreuzen bot den Saligen schützende Zuflucht. Ein Flachsfeld tat den gleichen Dienst, denn dorthin durfte ihnen der "Wilde Mann" nicht folgen.
Einst kamen einige von ihnen auf den Reisch-Hof bei Zell. Die Bäuerin
dankte Gott für den Segen, der damit für das Haus verbunden
war, und nahm sie freundlich auf. Den Bauer aber plagte eine heimliche
Scheu vor den geheimnisvollen Wesen. Unentwegt sann er darauf, wie er
sie loswerden könnte. Da er keine andere Möglichkeit sah, beschloss
er, sie mit Gewalt zu vertreiben. Als er eines Tages sah, wie eines der
scheuen Fräulein auf der Flucht vor dem "Wilden Mann" in
ein Flachsfeld sprang, lief er hinzu und trieb die Salige mit einem Stock
aus dem Feld. Im selben Augenblick gewann der "Wilde Mann" Macht
über die Unglückliche, packte sie und riss sie in der Mitte
auseinander. Seit jenem Tag ließ sich am Reischhof keine Salige
mehr blicken. Mit ihnen mied der Segen den Hof. Missernten folgten, das
Vieh ging an einer Seuche zugrunde, und bald starb auch der Bauer eines
unerwarteten Todes.
Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 50f.