Die weisse Schlange

Auf der Stadlbachalm am Nordhang der Ahornspitze wurden an heißen Sommertagen immer wieder Schlangen gesehen. Den Hüterbuben machte das aber weiter keine Sorgen. Wer die giftigen "Beißwürmer" nicht reizte, dem taten sie nichts zuleide, sie lagen untertags in der Sonne und verkrochen sich am Abend in ihre Löcher. Mit der Zeit gewöhnten sich die Almer so an die Tiere, dass sie ihnen kleine Schüsseln mit Milch ins Freie stellten. Das hätten sie besser nicht getan, denn bald wurde die Stadlbachalm von solchen Unmengen von Schlangen heimgesucht, dass sich Leut' und Vieh nicht mehr ins Freie wagten. Immer zahlreicher wurde das Gewürm, es kroch nachts in den Stall und saugte den Kühen die Milch aus den Eutern.

Die Almer packte derart das Grausen, dass sie mitten im Sommer zum Abtrieb rüsteten. Da erschien vor der Hütte ein prächtiger weißer Wurm und sagte:

"Richtet aus Steinen einen Herd auf und macht darin Feuer. Dann holt einen Geistlichen, der davor eine Messe liest. Er muss es ohne Messbuch tun, und wenn er dabei nicht steckenbleibt, werden alle Beißwürmer ins Feuer kriechen, und ihr seid sie los. Andernfalls werden sie euch alle totbeißen, und der Geistliche muss selber ins Feuer springen."

Der Rat wurde befolgt. Während die Leute den Steinherd aufrichteten, sprang der Hüterbub ins Dorf um den Pfarrer. Der kam und las die Messe ohne Buch fehlerlos zu Ende. Die Schlangen krochen ins Feuer, und die Alm war von der Plage erlöst. Seither wurde auf Stadlbach kein Beißwurm mehr gesehen. Auch die weiße Schlange blieb verschwunden, und niemand weiß, wer sie in Wirklichkeit war.

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Nach einer anderen Fassung spielte sich die Schlangenbeschwörung folgendermaßen ab:

Als Leuten und Kühen wegen der zahlreichen Beißwürmer das Grausen kam und sie darum mitten im Sommer zum Almabtrieb rüsteten, hatte der Hüterbub einen Einfall. Er kannte in Mayrhofen einen Geistlichen, der sich aufs Schlangenbeschwören verstand, und den wollte er holen. Als er diesem die Plage schilderte, unter der sie auf der Alm zu leiden hatten, fragte der Geistliche: "Ist eine weiße Schlange auch dabei? Dann geh' ich gar nicht hinauf, denn da bin ich machtlos."

Der Hüter nahm zu einer Notlüge Zuflucht, weil er sonst kein Mittel und keinen Ausweg mehr wusste, und so ging der Geistliche mit.

Als er auf Stadlbach ankam, hatten die Almer aus Steinen schon einen Altar errichtet. Da wollte er nun eine Messe lesen. In diesem Augenblick kroch der weiße "Wurm" heran, richtete sich auf und sagte:

"Du musst die Messe ohne Buch zurückauf lesen. Ein falsches Wort, und du musst statt meiner ins Feuer!"

Der Geistliche las die Messe von hinten nach vorn fehlerlos. Da krochen von allen Seiten die Schlangen herbei und ins Feuer, zu guter Letzt auch die weiße. Die war niemand anderer als der Teufel selber. Der Geistliche aber riet den Leuten:

"Setzt an dieser Stelle eine Zirbe! Wenn sie groß genug ist, schneidet sie zu Brettern und lasst daraus eine Wiege machen. Das erste Kind, das darin zu liegen kommt, wird wieder imstande sein, Schlangen zu beschwören."

Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 113ff.