Die Hippacher Monstranz

Von der "Ran" durch das "Windgfaß" talein geht's nach "Marbach", einen der letzten Einödhöfe. Dort hauste vor vielen Jahren ein braver Bauer mit seinem Weib und den sechs Kindern. Drei Kühe und ein paar Schafe gehörten auch zur kleinen Wirtschaft. Der ganze Stolz des biederen Mannes aber waren etliche aus Stroh geflochtene Bienenkörbe. Wenn er im Herbst die Waben öffnete und der goldgelbe Saft in die Schüssel floss, war seine Freude vollkommen.

Die Jahre gingen dahin, und der Bauer dachte nicht im Traum daran, dass es einmal anders werden könnte. Als die Kinder groß wurden und fortziehen mussten, weil das Brot für so viele Mäuler nicht reichte, tat bald darauf die Bäuerin ihre Augen zu, und also blieb er allein zurück. Und jetzt, wo ihm die Bienen erst recht Trost hätten sein können in der Einsamkeit, wurden sie trag und trugen kaum etwas von der braunen Süße heim. Der Bauer haderte mit dem faulen Volk, aber es half nichts. Im nächsten Frühjahr steckte er geweihte Palmzweige an die Fluglöcher, doch wieder blieb der Ertrag aus. In seiner Not kam dem einfältigen Mann ein absonderlicher Gedanke. Da ihm alle angerufenen Heiligen die Hilfe versagt hatten, wollte er den Herrgott selbst zwingen, ihn zu erhören.

An einem Sonntag im März kniete er drunten in der Hippacher Kirch' am Speisgitter und wartete auf die heilige Kommunion. Kaum aber spürte er die Hostie auf seiner Zunge, verdrückte er sich in eine Nische, wickelte den Leib Christi in ein Tuch und machte sich auf den Heimweg. Dabei redete er mit dem Herrgott, den er bei sich trug, und klagte ihm sein Leid. Auf seinem Gütl angekommen, legte er die Hostie behutsam in einen Strohkorb und ging seiner täglichen Arbeit nach.

Und da geschah das unerklärliche Wunder, von dem die Leute heute noch erzählen. Die Bienen begannen in alter Emsigkeit zu fliegen und bauten dem Herrgott eine Wohnstatt. Um die Hostie wuchs ein goldener Strahlenkranz und wölbte sich bald zur Monstranz. In ihrer Mitte aber thronte, von den Bienen umrahmt und gehalten, in schimmernder Reinheit die Hostie. Der Segen in den Körben mehrte sich von Tag zu Tag. Nach ein paar Wochen rann der Honig aus den Fluglöchern auf die Wiese. Da erst wurde dem Bauern sein Frevel bewusst. Er machte sich auf zum Hippacher Pfarrer und beichtete ihm den Gottesraub.

Anderntags wandelte eine feierliche Prozession hinein nach "Marbach". Die Monstranz wurde heimgeholt und im Tabernakel der Hippacher Kirche verwahrt. Abertausende Bienen folgten dem Zug und gaben dem Herrgott ein summendes Geleit. Heut' ist die Monstranz nicht mehr zu sehen. Sie soll im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts bei den Bauernkriegen geraubt und an einen unbekannten Ort gebracht worden sein.

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Die Sage kennt aber auch einen anderen Verlauf der Dinge. Wohl füllten sich durch den göttlichen Segen, den der Leib Christi gebracht hatte, die Waben mit goldgelbem Honig, dafür blieb im Stall der Melkeimer leer, und eines Tages lagen die Tiere gar verendet im Stall. Da bereute der Bauer sein frevelhaftes Tun und bat die Muttergottes um Hilfe. In der Nacht darauf weckte ihn eine Stimme:

"Trag den Herrn zurück!",

befahl sie ihm. Nach dem ersten Schreck sprang der Bauer aus dem Bett, schlüpfte in Kleider und Schuhe, holte die Hostie aus dem Bienenkorb, wickelte sie in ein Tuch und lief talaus auf Hippach zu. Der Pfarrer befand sich gerade auf dem Weg zur Frühmesse, als der Bauer ihn traf und sein Vergehen beichtete.

"Du wirst von mir den Leib des Herrn nicht mehr empfangen", sagte der geistliche Herr. "Wer damit nicht umzugehen weiß, ist nicht wert, ihn zu empfangen."

Damit entließ er den verzagten Sünder, der schweren Herzens seiner Einöde zustrebte. Aber siehe da: Das Vieh im Stall war wieder gesund und munter, und als er ans Melken ging, da floss die Milch aus den Eutern, dass der Eimer übervoll wurde.

"Wenn nur der Pfarrer auch noch verzeihen tat wie die Mutter Maria!",

seufzte der Bauer vor dem Schlafengehen. Da hörte er in der Nacht abermals eine Stimme:

"Geh dreimal zur Frühmesse ins Dorf hinunter und knie jedesmal am Speisgitter, bis die Messe zu Ende ist!"

Der Bauer tat, wie ihm geheißen, und beim dritten Mal reichte der Pfarrer dem reuigen Sünder endlich den ersehnten Leib des Herrn.

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Nach einer dritten Fassung soll es eine reiche Bäuerin gewesen sein, die ihre Habgier zum Hostienraub veranlasste. Als sie sah, dass die Bienen rund um das heilige Brot eine Monstranz bauten, wurde ihr unheimlich zumute. Sie lief zum Hippacher Pfarrer und beichtete ihm ihr Vergehen.

Der geistliche Herr stieg auf den Schwendberg und holte die Hostie heim. Die Bäuerin aber plagte echte Reue, und sie stiftete der Pfarre eine goldene Monstranz, was sie den ganzen Hof kostete. Die Monstranz wurde lange Zeit in der Hippacher Kirche aufbewahrt, ehe sie gestohlen wurde.

Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 101ff.