Der Lindenpfarrer

Zwischen Hippach und Stockach liegt ein Festplatz, genannt "Zur Linde". Den Namen haben die drei uralten Linden gegeben, unter denen ein Holzkreuz steht mit einer Rastbank daneben. Vor Jahren wurde dort jede Nacht um die Geisterstunde eine Gestalt im Priesterkleid vor dem Kreuz kniend und betend gesehen. Man nannte die Gestalt den Lindenpfarrer und glaubte, dass er dort seine Sünden abbüßte. Er habe, so hieß es, zu Lebzeiten einmal aus Leichtsinn versäumt, einem Sterbenden das Brot Jesu Christi zu reichen. Darum finde er im Grab keine Ruhe und müsse solang "umgehen", bis ein Mensch ihn erlöse. Die Leute aber hatten Angst und machten stets einen großen Bogen um den Platz, wenn sie zur Nachtzeit diesen Weg gehen mussten.

Einmal befand sich ein junger Tischlergeselle, der in Mayrhofen beim Tanz gewesen war, auf dem Heimweg nach Hippach. Er war spät dran und hatte es eilig. Vielleicht war er mit den Gedanken auch woanders, jedenfalls ging er geradeaus auf die Linden zu und wollte daran vorbei, als er eine dunkle Gestalt bemerkte. "He!", rief er, "gehst nicht mit? Zu zweit ist's unterhaltsamer."

Da er keine Antwort bekam, zog er der Gestalt mit dem Stock eins über den Rücken. Da drehte sich der Beter um - er hatte einen Totenschädel. Entsetzt nahm der Gesell' Reißaus, der Geist aber blieb ihm hart auf den Fersen. Er konnte gerade noch ins Hippacher Pfarrhaus schlüpfen, dann sank er keuchend zusammen. Seit dieser Nacht ist der Lindenpfarrer nie mehr gesehen worden.

Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 82f.