Die Grasegger-Lappin

Auf der Aste "Grasegg" hauste vor vielen Jahren ein Geist, ein altes Weib, gutmütig und hilfreich beim Füttern und Tränken, beim Saubermachen und beim Melken. Jedermann nannte sie die "Grasegger-Lappin". Einmal - es war mitten im Winter, und der Schnee lag meterhoch um die Hütte - kam das Weib in die Stube und sagte: "Heut' müssen wir abfahren."

"Spinnst?", fragte der Melker. "Warum abfahren? Erstens kommen wir nirgends aus, und zweitens ist noch genug Futter da."

"Heut' ist Heiliger Abend", erwiderte die Alte. "Wenn wir heut' nit geh'n, gibt's ein Unglück. Wenn's zur Mett'n läutet, dann geh'n wir. Ich mach' dir schon einen Weg fürs Vieh."

Wird wohl am besten sein, wenn ich nachgeb', dachte sich der Melker, dem doch ein wenig unheimlich zumute war. Also richtete er sich zum Abtrieb, und als sie das Läuten hörten, brachen sie auf. Die Grasegger-Lappin ging voraus, vor ihr wich der Schnee zu beiden Seiten zurück, sodass der Viehtrieb gut vorwärts kam.

Als sie im Tal waren und den Weg am Ziller entlang gegen Mayrhofen hinausgingen, hörten sie in den Bergen hinter sich ein gewaltiges Donnern. Eine Lawine ging nieder und begrub die Aste auf Grasegg unter sich. Der Senner wollte sich seiner Retterin dankbar erweisen und schenkte ihr seinen warmen Schafpelz. Da begann die Grasegger-Lappin zu jammern: "O mein Gott, hätt'st doch nur Vergelt's Gott g'sagt, dann war ich jetzt erlöst. So aber muss ich wieder zurück in Eis und Schnee und büßen, bis die Gerlossteinwand so groß ist wie eine Hand, und das Örbiskögal so groß wie ein Vögal. Neunmal Wiesen und neunmal Wald, o lieber Gott, jetzt werd' ich noch einmal so alt!"

Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 116.