Der Geigergatter

Bei der Streitenfeldaste auf dem Zellberg ist hinter dem Stall ein Gatter, das bis auf den heutigen Tag der Geigergatter heißt, weil dort vor Jahren jeder, der vorbeikam, ein Geigenspiel vernahm, ohne irgend jemanden zu bemerken.

Dem Melker auf der Aste erging es nicht anders. Täglich zweimal kam er am Gatter vorbei. An einem frischen Morgen, als er wieder einmal das Geigenspiel hörte, rief er dem Geist vorwitzig zu:

"Komm her und wärm dich im Stall! Musst ja ganz eiskalte Finger haben."

Kaum war das gesagt, stand der Geist leibhaftig vor ihm. Da bekam es der Melker mit der Angst zu tun. Er sprang in den Schafstall, denn er wusste:

"Wenn einer bei den Schafen steht, kann ihm ein Geist nichts anhaben."

Der Geist aber hatte nichts Böses im Sinn.

"Fürchte dich nicht!", rief er. "Komm her und begreif mich!"

Da wagte sich der Melker hervor, berührte den Geist, und im selben Augenblick war alle Angst weg. Von da an kam der Geist jeden Tag und nahm dem Melker manche Arbeit ab. Im Herbst hieß es voneinander Abschied nehmen. Der Melker bedankte sich für die Hilfe und zog mit dem Vieh talwärts. Vom nächsten Jahr an aber war am Gatter kein Geigenspiel mehr zu hören. Der Melker hatte den Geist erlöst.

Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 51f.