Der Turmgeist

Das Schlagwerk der alten Kirchturmuhr ächzte und knarrte bei jedem Stundenablauf, als täte es seinen letzten Schnaufer. Und beim alltäglichen Zwölfuhrschlag der Mittagswende schien es fast, als ginge dem Primitiven, schmiedeeisernen Werk aus urdenklichen Zeiten der Atem ganz aus. Es war auch so, denn die schweren Gewichte waren pünktlich um diese Zeit schier zehn Meter in die dunkle Tiefe des behäbigen, totenstillen Mauerwerkes gesunken und standen beim letzten Hammerschlag auf die große Glocke am Boden auf.

Da war es auch alltäglich an der Zeit, das jahrhundertalte, geduldige Werk aufzuziehen, ansonsten es stehen blieb und die geschwätzigen Jäterinnen auf den Äckern die eherne Zeitansage vergebens erwarteten.

Dem Mesner Toni sangen dann freilich die Ohren, denn er mußte, ob es stimmte oder nicht, schon bei einer Kindstauf oder Hochzeit dem Glas auf den Boden geschaut haben.

Doch selten vergaß er seinen täglichen Aufstieg zum mächtigen Uhrkasten unter der Glockenstube.

So stieg er auch wieder eines Tages über die alten, lärchenen Stiegen durch düsteres Dunkel zum dumpf tickenden Werkgehäuse empor, um die Gewichte hochzuziehen. Erst das Geh-, dann das Viertel- und schließlich das Stundenschlaggewicht baumelte an den starken Seilen nach oben. Als er seine Arbeit beendet, guckte er noch durch das kleine runde Fenster auf die umliegenden Häuser des Dörfleins, die zierlichen Gärtlein und die geschäftigen Menschen, die ihm drunten immer so zierlich und sonderbar klein wie Krippengebilde vorkamen.

Da!

Auf einmal hörte er über sich einen gar sonderbaren, gruselnden Laut, ein lang gezogenes, kräftiges ps-ps.

Da fuhr es ihm, dem alten Knaben im grauen Haar, kalt über den Rücken und die Haare standen ihm ordentlich zu Berg, das hatte er noch nie gehört.

Sollte dies etwa der sagenhafte, sonderbare Turmgeist sein, den man in früheren Zeiten schon öfters vernommen und der immer wieder von Zeit zu Zeit sich bemerkbar gemacht haben soll?

Ein Gruseln erfaßte ihn wie noch nie. Und als er schließlich wieder im Freien stand, wußte er nicht, wie er über die vielen Treppen so ungehindert hinuntergekommen war.

Der kalte Schweiß bedeckte ihn, nein, das hatte er noch nie erlebt und ein Feigling war er doch schließlich auch nie gewesen.

Er schwieg über sein Erlebnis, denn Geister, so hatte er einmal gehört, soll man nicht verraten und sie in ihrem Tun und Treiben nicht stören.

Aber genau konnte er es sich vorstellen, das Gespenst mit langem, wallendem weißen Bart und weißem Mantel.

Er täuschte sich bestimmt nicht, er hatte es gesehen, ganz deutlich, am schiefen Ausgang zum Kirchengewölbe.

Und am nächsten Tag sollte er wieder hinaufsteigen in die gruselige Finsternis des Turmes. Doch nein, wie oft war er mitten in der Nacht zu den Glockenstühlen mit seiner Laterne emporgeklettert, um das Läutwerk zum Frühläuten in Ordnung zu bringen, wenn es wieder einmal nach Spitzbubenstreichen nicht funktionierte.

So trabte er Tag für Tag die steilen, abgetretenen Stiegen empor, und immer hörte er denselben Laut, das jämmerliche, geisterhafte ps ps des Turmgeistes.

Nun wollte er sich aber doch einmal ein Herz nehmen und der Sache näher kommen. In einem alten Büchl hatte er einmal gelesen, daß man den Geist beherzt fragen solle, was sein Begehr sei. Dann könnte man ihm helfen und er wäre erlöst.

So holperte er wieder zur Mittagsstunde hinauf ins kühle Dunkel, in der Linken seine Laterne, mit der rechten auf das Geländer gestützt.

Aber nein, nur keine Furcht!

Unter dem Arm trug er ja den großen Weihwasserwedel von der Sakristei, um auf jeden Fall gewappnet zu sein.

Etwas zögernd, mit leichtem Herzklopfen, zog er die Gewichte gewohnheitsgemäß empor.

Nichts rührte sich.

Tick-Tack, baumelte das unverdrießliche Pendel von einer Wand zur andern.

"Gib acht! - Gib acht!" kam es ihm vor, warnend und deutlich. Er begann zu zittern und bleischwer wurden ihm die Füße.

Da!

Alle heiligen Geister!

Richtig, er täuschte sich nicht.

Ein langgezogenes, schauerliches und immer lauter werdendes Ps Ps störte die heilige Stille des Gemäuers.

Fast fiel er in Ohnmacht.

Er bekreuzte sich, besprengte mit dem ausgebürsteten Wedel alle Himmelsrichtungen und lisperte [sic] verschwommene Laute.

Aber der Geist verstummte nicht und schien ungeduldig zu werden.

Nun war für ihn der große Augenblick gekommen.

"Unbekannter Geist, was ist dein Begehr?" schrie er mit fester Stimme.

Er sah nichts, es rührte sich nichts, aber der unheimliche Ton hielt keineswegs inne.

Er frag ein zweites, ein drittes Mal.

Keine Antwort. - Das schien ihm doch sonderbar.

"Nun mag es gehen wie es will!" dachte er.

Er ging dem unheimlichen Ort näher, hob seine Laterne empor, und suchte die verstaubten Winkel sorgfältig ab.

Jeden Augenblick glaubte er das sagenhafte Gespenst zu sehen.

Er trat näher, das Gespenst verstummte nicht.

Nun war es knapp über seinem Kopf.

Er leuchtete zitternd in die Höhe.

Etliche schuhbreit sah er nun, wirklich und wahrhaftig, an einem altersmorschen Brett den Geist.

Er mußte selbst hellauf lachen.

Hing da eine Fledermaus, die sich nach vollbrachtem Nachtwerk ihre Tagesruhe an diesem stillen Winkel suchte und im Zorn über diese Störung die sonderbaren Laute von sich gab.

Ein großer Stein war ihm vom Herzen gefallen, er brauchte keinen Geist mehr zu erlösen, selbst aber war er von tagelangem Grusel befreit.

Die Wipfel rauschten wirr im Hag,
Wie verstimmter Orgelton.
Es huschte vor dem jungen Tag
Schnell das schwarze Paar davon.

In Stub' und Kammer ward es still,
Ausgestorben jedes Haus.
Um jede Ecke, dumpf und schrill
Pfiff verschämt der kalte Graus.

Vereinsamt irrte mit dem Wind
Tal und Hügel einer ab,
Ob er nicht einen Menschen find'
Auf des Grundes weitem Grab.

Am Hochsaum über Dorf und Land,
Moderfest ein Marchzaun steht.
Daß Leben hier zu Leben fand
Raunt der Gatter, lenzumweht.

Adolf Mühlegger

Quelle: Der Sagenkranz der Wildschönau, in: Heimat Wildschönau, Ein Heimatbuch, Dr. Paul Weitlaner, Schlern-Schriften Nr. 218, Innsbruck 1962, S. 125 - 155.